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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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den Neuankömmling die nächste Visite direkt zur Frau des Postmeisters, Olimpiada Saweljewna Schestago, deren Salon in Konkurrenz zu dem der Gouverneursgattin stand. Die Gesellschaft von Sawolshsk war damals in zwei heimliche Parteien gespalten, die man als konservativ und progressiv bezeichnen könnte (letztere wurde manchmal noch aus alter Gewohnheit liberal genannt, dabei kommt dieses Wort im heutigen Russland immer mehr aus der Mode). Beide Lager wurden von Frauen angeführt. Die konservative Partei war, wie es sich gehört, die herrschende, und ihre wahre Führerin war Ljudmila von Gaggenau. Die meisten Beamten und ihre Frauen scharten sich entsprechend ihrer Stellung, Tätigkeit und natürlicher Überzeugung um diese Standarte.
    Zur Oppositionspartei gehörten vorwiegend aufmüpfige junge Leute wie Lehrer, Ingenieure und Angestellte von Post und Telegraph; die politische Färbung der Letzteren erklärte sich aus ihrer Zugehörigkeit zu dem Postamt, dessen Leiter seiner besseren Hälfte Olimpiada in völliger Sklaverei verfallen war. Frau Schestago galt in der Stadt als Schönheit, doch ganz anderer Art als die Gouverneursgattin: Sie war nicht stattlich und nicht gutherzig, sondern hager und scharfzüngig, anders ausgedrückt, graziös und intellektuell, wie sie selbst diese Vorzüge definierte. Sie entstammte einem millionenschweren Kaufmannsgeschlecht und hatte ihrem Gatten als Mitgift dreihunderttausend zugebracht, was sie ihm bei der kleinsten Verfinsterung des familiären Himmels, der größtenteils wolkenlos war, unter die Nase rieb. In ihrem reichen, gastlichen Haus wurden solche für Sawolshsk exotischen Bräuche gepflegt wie Gottlosigkeit, Lektüre verbotener Zeitungen und freie Diskussionen über den Parlamentarismus. Frau Schestago empfing donnerstags, jeder konnte kommen, und es kamen sehr viele, denn ihre Tafel war üppig gedeckt und die Unterhaltung nach provinziellen Maßstäben zuweilen interessant.
    Da Bubenzows erste Visiten gerade auf einen Donnerstag fielen, präsentierte er sich dem progressiven Lager unbesorgt ob der fehlenden Einladung, was auf gründliche Kenntnis der Sitten und der Kräfteverteilung im Gouvernement hindeutete.
    Sein Besuch bei der Postmeistersgattin machte unter den Liberalen regelrecht Furore, denn sie waren schon zu dem Schluss gelangt, dass der Agent der Reaktion ihretwegen ausgesandt worden sei, um in der Sawolshsker Gesellschaft die Freidenkerei und den Geist des Aufruhrs auszurotten. Das war einerseits Besorgnis erregend, andererseits auch angenehm (seht an, der Oberprokuror persönlich ist beunruhigt über die hiesigen Karbonari), doch wohl hauptsächlich Besorgnis erregend.
    Aber der »Agent der Reaktion« war gar nicht so Furcht einflößend. Er gab sich aufgeklärt und sprach ganz frei über die neuere Literatur – über den Grafen Tolstoi und über die französischen Naturalisten, die man in der Stadt nur vom Hörensagen kannte. Einen vortrefflichen Eindruck machte auch die rasiermesserscharfe Zunge des Gastes. Als der Inspektor der Volksschulen Ilja Nikolajewitsch Fedjakin, der bei den Progressiven als unübertroffener Spötter galt, dem so überaus selbstsicheren Schwätzer einen Dämpfer verpassen wollte, erwies sich, dass der einheimische Lästerer dem Petersburger Abgesandten nicht im Geringsten gewachsen war.
    »Es ist nett, solch kühne Urteile aus dem Mund eines Dieners der Gottesfurcht zu hören«, sagte Fedjakin mit ironisch eingekniffenen Augen und strich seinen Spitzbart, was bei ihm auf ernstliche Gereiztheit deutete. »Sie plaudern mit dem Oberprokuror wohl oft über die physiologische Liebe bei Maupassant?«
    » › Physiologische Liebe ‹ , das ist ja doppelt gemoppelt wie ein weißer Schimmel«, schnitt ihm Bubenzow das Wort ab. »Oder überwiegt bei Ihnen in Sawolshsk noch der romantische Blick auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern?«
    Olimpiada errötete, so peinlich war es ihr vor diesem klugen Mann, dass Fedjakin bei ihr den Ehrenplatz an der Stirnseite der Tafel innehatte, und äußerte sich hastig gegen jede Scheinheiligkeit in der sexuellen Partnerschaft.
    Bei der Postmeistersgattin ging der gewandte Petersburger noch dreister vor als bei der Frau des Gouverneurs. Als er aufbrach – vor allen anderen Gästen, als wollte er ihnen Gelegenheit geben, ihn ausgiebig durchzuhecheln –, begleitete Olimpiada, die von seinem hauptstädtischen Glanz schon geblendet war, den teuren Gast in die Diele. Sie reichte ihm die Rechte zum

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