Akunin, Boris - Pelagia 01
Gymnasium haben sie ihn geworfen wegen dummer Streiche. Von der Universität ist er geflogen wegen Aufruhr. Über den Minister habe ich ihn freigebeten, damit er unter meine Obhut durfte, eigentlich sollte er nach Sibirien. Der Junge ist gutmütig und feinfühlig, aber eben sehr . . . dumm. Er hat keinen Charakter und taugt zu keiner Aufgabe. Er versucht, Stepan Schirjajew zu helfen, aber er bringt nicht mehr Nutzen als eine Nonne Nachwuchs.«
Pelagia räusperte sich zum Zeichen, dass der Vergleich unpassend war, aber Frau Tatistschewa hatte für solche Feinheiten keinen Sinn. Mit gequälter Stimme rief sie aus:
»Mein Gott, warum dauert das so lange? Wenn bloß nichts passiert ist . . .«
»Und was ist mit Naina Georgijewna?«, fragte Pelagia, um die Gutsherrin von ihren unruhigen Gedanken abzulenken.
»Die kommt nach ihrer Mutter«, sagte die Witwe heftig. »Ebenso launisch, nur hat sie von dem Fürsten obendrein den Hang zur Wichtigtuerei geerbt. Mal wollte sie Schauspielerin werden und hat dauernd Monologe deklamiert, dann wieder zog es sie zur Malerei, und jetzt kapiert man überhaupt nichts mehr, so wirr redet sie. Ich bin ja selber schuld, hab sie zu sehr verwöhnt, als sie noch klein war. Das Waisenkind hat mir Leid getan. Sie war Polina so ähnlich . . . Was, bringen sie ihn?«
Sie erhob sich vom Sessel, horchte und setzte sich wieder.
»Nein, ich hab mich geirrt. Was aus ihnen werden soll, wenn ich nicht mehr bin, das weiß Gott allein. Meine ganze Hoffnung liegt bei Stepan. Er ist ehrlich, treu, rechtschaffen. Das wäre der Richtige für Naina, und er liebt sie, das sehe ich, aber begreift sie denn, was an Männern schätzenswert ist? Stepan ist unser Zögling. Er ist hier auf gewachsen, hat dann an der Akademie studiert, um Kunstmaler zu werden, und da ist mein Apollon gestorben. Stepan war zwar noch ein Jungchen, aber er hat das Studium hingeworfen, ist nach Drosdowka zurückgekommen, hat die Wirtschaft in die Hände genommen und macht das so gut, dass mich das ganze Gouvernement beneidet. Doch er ist nicht mit dem Herzen dabei, das sehe ich. Aber er murrt nicht, empfindet das als seine Pflicht. . . Ich stehe in seiner Schuld, ich Sünderin. Vorgestern habe ich mit ihm gezankt, auch mit den Enkeln, war ganz außer mir wegen Saguljais Tod. Habe mein Testament geändert, und jetzt schäme ich mich . . .«
Pelagia wollte schon den Mund aufmachen, um nach den Änderungen im Testament zu fragen, doch sie biss sich auf die Zunge, denn mit der Hausfrau geschah Unheimliches.
Die Witwe riss den Mund auf, ihre Augen quollen vor, die Falten unterm Kinn bebten in kleinen Wellen.
Der Schlag hat sie getroffen, dachte die Nonne erschrocken. Sehr wahrscheinlich, bei ihrer Beleibtheit.
Aber Frau Tatistschewa zeigte keine Lähmungserscheinungen, im Gegenteil, sie riss die Hand hoch und zeigte mit dem Finger auf etwas hinter der Nonne.
Pelagia drehte sich um und sah: Aus dem Park kam, eine dunkelrote Spur ziehend, Sakidai zur Terrassentreppe gekrochen. In dem höckerigen weißen Schädel des Hundes steckte ein Beilchen, aus irgendwelchen Gründen blau lackiert, so dass die weiß-blau-rote Farbskala exakt die Farben der russischen Fahne wiedergab.
Sakidai kroch mit letzter Kraft, die Zunge herausgestreckt, und blickte auf einen einzigen Punkt – dahin, wo Frau Tatistschewa vor Grauen erstarrt war. Er winselte nicht, er jaulte nicht, er kroch nur. Kurz vor der Veranda verließ ihn die Kraft, er stieß mit dem Kopf gegen die unterste Stufe, zuckte ein paarmal und war tot.
Frau Tatistschewas Kleid raschelte, sie sank zur Seite, und ehe Schwester Pelagia sie auffangen konnte, stürzte sie zu Boden. Der Kopf der alten Frau schlug krachend auf die Kieferndielen. Der kleine Sakussai, seiner weichen Wiege verlustig, kullerte wie ein weißer Ball über die Veranda und kläffte kläglich.
Das Schlangennest
Einen Schlaganfall stellte der Arzt nicht fest, aber er machte auch keine Hoffnungen. Das sei ein Nervenfieber, dagegen könne die Medizin nichts ausrichten. Es komme vor, dass selbst ein kerngesunder Mensch nach einer Erschütterung innerhalb weniger Stunden daran sterbe, doch hier kämen das vorgerückte Alter, das Herz und das hysterische Naturell noch dazu. Auf die Frage, was man denn nun tun solle, gab er die seltsame Antwort: »Ablenken und erfreuen.«
Wie aber sie ablenken, wenn sie immerfort nur von dem einen sprach? Womit erfreuen, wenn ihren Augen unaufhörlich Tränen entströmten? Überdies ließ sie
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