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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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keinen der Nächsten an sich heran, sie schrie: »Ihr alle seid Mörder!«
    Der Arzt fuhr wieder ab, nachdem er für die Visite die ihm zustehende Vergütung erhalten hatte. Der Familienrat beschloss, Schwester Pelagia um die geistliche Betreuung der Patientin zu bitten, zumal diese selbst weder Enkel noch Nachbarn, nicht einmal den Gutsverwalter sehen wollte, nur immer wieder nach der Nonne fragte und sie nachgerade stündlich zu sich ins Schlafzimmer zitierte.
    Pelagia folgte ihrem Ruf, setzte sich zu ihr ans Kopfende und lauschte ihren fieberhaften Reden. Die Vorhänge waren zugezogen, auf einem kleinen Tisch brannte eine Lampe mit grünem Schirm, es roch nach Anis und Minzeküchlein. Die Witwe schluchzte, drückte sich verschreckt in die Kissen, verfiel dann wieder in Wut, aber nicht für lange, denn zu anhaltendem Zorn fehlte ihr die Kraft. Fast ständig lag Sakussai ihr zur Seite, und sie streichelte ihn, nannte ihn »Waisenkind« und fütterte ihn mit Schokolade. Der Ärmste war schon ganz ermattet von der Bewegungslosigkeit und probte von Zeit zu Zeit den Aufstand mit Gebell und Gewinsel. Dann nahm Tanja ihn an die Leine und führte ihn spazieren, doch solange die beiden unterwegs waren, war die Hausfrau von Unruhe erfüllt und blickte immer wieder zu der großen Wanduhr.
    Pelagia empfand natürlich Mitleid mit der Kranken, wunderte sich aber zugleich, woher die schwache Frau, die kaum die Zunge bewegen konnte, so viel Grimm nahm.
    Frau Tatistschewa küsste Sakussai auf die faltenreiche Schnauze und sagte:
    »Wie viel besser als die Menschen sind doch die Hunde!«
    Sie horchte auf die Stimmen, die gedämpft aus der Tiefe des Hauses drangen, und flüsterte voller Hass:
    »Das Haus ist ein Schlangennest.«
    Oder sie guckte auf die Hände der Nonne, die flink mit den Stricknadeln klapperte, und verzog das Gesicht.
    »Was stricken Sie denn da, Mütterchen? Irgendwas Grässliches. Schmeißen Sie’s weg.«
    Am unangenehmsten aber waren die Anfälle schlimmster Verdächtigungen, welche die Witwe mehrmals am Tag überkamen. Dann stürzte die Dienerin los, um Schwester Pelagia zu suchen. Sie fand sie entweder in deren Zimmer, in der Bibliothek oder im Park und brachte sie zu der Kranken, die sich unter der Zudecke zusammenkrümmte, so dass nur die fiebrig glänzenden Augen hervorsahen.
    »Ich weiß, das war Pjotr, niemand sonst!«, flüsterte sie. »Er hasst mich, will mich umbringen! Er ist ja zwangsweise hier, und ich bin dem Polizeichef für ihn verantwortlich. Er hat mich Benckendorff (Benckendorff, Alexander Graf von (1783-1844) - ab 1826 Chef des Gendarmeriekorps und der Dritten Abteilung. D.Ü.) genannt und noch ganz anders. Er war’s, diese Telianowsche Ausgeburt! Ich bin ihm nur im Wege. Er wollte die Dorfkinder unterrichten, das habe ich nicht zugelassen, denn er hätte ihnen nichts Gutes beigebracht. Geld gebe ich ihm auch nicht, das würde er nur seinen Nihilisten schicken. Und dann hat er hier noch gänzlich den Verstand verloren, meine Tanja will er heiraten. Ein Stubenmädchen! › Großmutter ‹ , hat er gesagt, › wagen Sie nicht, Tanja zu duzen, Sie müssen den Menschen in ihr sehen. ‹ Gut, was? Mein Enkel will ein Flittchen vom Hofgesinde ehelichen! Wenn er wenigstens besinnungslos in sie verliebt wäre, doch nein. Es ist so eine Idee von ihm – sich zu opfern, um aus einer Halbanalphabetin eine aufgeklärte Frau zu machen. › Große Aufgaben ‹ , sagt er, › sind was für große Leute, ich jedoch bin ein kleiner Mensch, und meine Aufgabe wird klein sein, aber dafür gut. Wenn jeder von uns auch nur einen Menschen glücklich macht, hat er nicht umsonst gelebt. ‹ Ich zu ihm: › Du wirst das Mädchen ohne Liebe nicht glücklich machen, und wenn du sie von oben bis unten vergoldest und ihr sämtliche Bücher der Welt vorliest. Wozu ihr den Kopf verdrehen? Ich habe schon einen Bräutigam für sie ausgeguckt, den Sohn vom Aufkäufer, der passt bestens zu ihr. Du setzt ihr nur einen Floh ins Ohr, und nachher trauert sie ihr Leben lang den unerfüllten Träumen nach. ‹ Und am beschämendsten, er schläft nicht mal mit ihr, der Trottel! Ich denke mir, wenn er nächtlicher Weile öfters zu ihr ginge, würde er sich die Hörner abstoßen und zur Vernunft kommen. Was gucken Sie mich so vorwurfsvoll an, Mütterchen? Ich habe mein Leben gelebt und weiß, wovon ich rede.«
    Eine Stunde später hatte sie schon anderes im Kopf.
    »Nein, Naina war’s. Die ist ganz liebestoll. Ich kenne diese

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