Akunin, Boris - Pelagia 01
seinen Sohn mit, interessanter Bengel. Während sein Vater und ich, wie üblich, lange feilschten, bis wir einschlugen, hatte ich den Jungen in die Bibliothek gesetzt, damit er sich nicht langweilt, und ihm Äpfel und Pfefferkuchen hingestellt. Einmal schau ich rein, ob er nicht eingeschlafen ist, da seh ich, er liest in meinem Fachbuch für Elektromotoren, das hatte ich mir kürzlich aus Moskau kommen lassen. Ich frag ihn: Wozu liest du das? Da sagt er: Onkel, wenn ich groß bin, will ich eine elektrische Bahn durch den Wald bauen. Eine Schneise schlagen und Schienen verlegen, das ist langwierig und teuer. Ich, sagt er, stelle starke Masten auf und hänge kleine Waggons an Seile. Das ist billiger und bequemer und geht schneller. Und da sagen Sie und Bubenzow, wir sind Wilde . . .«
»Sakidai!«, rief die Generalswitwe plötzlich und schlug die Hände zusammen. »Sakidai! Wo steckt der Hund? Ich hab ihn schon eine Weile nicht gesehen!«
Alle hielten Umschau, und Schwester Pelagia linste unter den Tisch. Die Bulldogge war nicht auf der Terrasse. Der kleine Sakussai lag mit ausgestreckten Pfoten friedlich schnaufend neben der leeren Schüssel, doch sein Erzeuger war verschwunden.
»In den Park ist er gelaufen«, konstatierte Miss Wrigley. »Dort wird er wieder irgendeinen Dreck fressen.«
Frau Tatistschewa griff sich ans Herz.
»Ach mein Gott . . .« Sie schrie gellend: »Sakidai, wo steckst du?«
Pelagia sah staunend große Tränen aus ihren Augen rinnen. Die Herrin von Drosdowka versuchte aufzustehen, sank aber wie ein Sack in den Korbsessel zurück.
»Liebe Leute«, murmelte sie. »Geht, lauft . . . Sucht ihn. Gerassim! Beeilt euch! Tanja, lass jetzt die Tropfen. Geh mit, ihn suchen. Die Tropfen kann mir die Schwester geben, sie kennt ja den Park nicht. Bringt ihn mir!«
Im Handumdrehen leerte sich die Terrasse – alle, auch die störrische Miss Wrigley und die eigensinnige Naina, liefen in den Park, um den Hund zu suchen. Nur die schluchzende Frau Tatistschewa und Schwester Pelagia blieben zurück.
»Zwanzig sind zu wenig, ich will dreißig Tropfen.«
Mit fliegender Hand nahm die Witwe das Glas mit den Herztropfen und trank.
»Geben Sie mir Sakussai!«, verlangte sie und drückte den verschlafenen Welpen an die Brust.
Sakussai öffnete ein wenig die Augen und schlug leise an, weigerte sich aber aufzuwachen. Er kuschelte sich unter die umfängliche Büste der Witwe und wurde still.
Aus dem Park klangen die Stimmen und das Gelächter der Sucher, die sich untereinander verständigten, während sie den weitläufigen Park durchsuchten. Die unglückliche Frau Tatistschewa saß, nicht tot noch lebendig, da und redete, redete, als wollte sie so die Sorge verscheuchen.
»Ach, Mütterchen, dass mein Haus voller Menschen ist, besagt gar nichts, ich bin schrecklich allein, niemand liebt mich wirklich, nur meine Kinderchen.«
»Ist das wenig?«, sagte Pelagia tröstend. »Diese beiden prächtigen jungen Leute.«
»Sie meinen Pjotr und Naina? Ich spreche von meinen Hunden. Pjotr und Naina . . . denen bin ich nur im Wege. Meine Kinder hat der Herr zu sich genommen. Am längsten hat Polina gelebt, die Jüngste, aber auch ihr war nur eine kurze Zeit beschieden. Sie starb, als sie Naina zur Welt brachte. Ein gutes Mädchen war sie, lebhaft, mit heißem Herzen, aber als Frau stockdumm, und Naina kommt nach ihr. Polina hat gegen meinen und meines Mannes Willen früh geheiratet, diesen lausigen kleinen Fürsten aus Georgien, der nichts anderes konnte als den Leuten blauen Dunst vormachen. Ich wollte nichts mit der Sippe zu tun haben, aber als Polina die Augen zugemacht hatte, taten mir die Waisen leid. Ich habe sie losgekauft und zu mir genommen.«
»Losgekauft? Wie denn?«, fragte Pelagia verwundert.
Die Generalswitwe machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ganz einfach. Ich habe ihrem Vater versprochen, seine Schulden zu bezahlen, wenn er mir ein Papier unterschreibt, dass er seinen Sohn und seine Tochter nie wiedersieht.«
»Und das hat er unterschrieben?«
»Was sollte er machen? Unterschreiben oder ins Kittchen.«
»Und er hat sich nie wieder gemeldet?«
»Doch, hat er. Vor fünfzehn Jahren hat er mir einen weinerlichen Bettelbrief geschrieben. Gebettelt hat er nicht um ein Wiedersehen mit den Kindern, sondern um eine geldliche Zuwendung. Später soll er nach Amerika gegangen sein. Ob er noch lebt, weiß ich nicht. Aber die Enkel hat er mir verdorben mit seinem Gockelblut. Pjotr ist ein Tölpel. Aus dem
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