Akunin, Boris - Pelagia 01
Veranlagung bestens, ich war genauso. Ich hätte meine Eltern eigenhändig erwürgen können, nur um frei zu sein. Besonders als ich mich mit siebzehn dummerweise in den Gemeindepopen verliebte. Der war schön, jung und hatte eine Stimme wie Samt. Fast wäre ich mit ihm durchgebrannt, aber zum Glück hat mein Vater selig mich abgepasst, mich verbläut und in die Kammer gesperrt. Auch Naina hat sich in irgendwen verknallt, es schwirren ja genug Kerle um sie herum. Nun steht die Großmutter ihrem Glück im Wege. Sie hat sich einen ausgesucht, mit dem ich nie im Leben einverstanden wäre, das weiß sie und will nun über meine Leiche an ihr Ziel. Vielleicht ist das ihr Charakter. Ach, Naina, Naina, habe ich dich nicht geliebt, habe ich dir nicht meine ganze Seele gegeben? Mein Sakussai, mein weiß geflügeltes Engelchen, nur du wirst mich nicht verraten, nicht wahr, mein Süßerchen?«
Dann, eine Weile später, traf Pelagia die Witwe in selbstloser Versöhnlichkeit. Vor Edelmut schluchzend, sagte die Witwe:
»Setz dich, Mütterchen, und hör zu. Mir ist aufgegangen: Es war Stepan, und ich gebe ihm keine Schuld. Wie viel von seiner Lebenszeit hat er mir geopfert. Seit zwanzig Jahren ist er ständig bei mir. Seinen Traum hat er aufgegeben, sein Talent begraben, ist mit vierzig noch Junggeselle. Ich lebe doch von seiner unermüdlichen Arbeit. Ohne ihn wäre das Vermögen meines Mannes längst in Rauch aufgegangen, bei meiner Dummheit, doch er hat es bewahrt und gemehrt. Dabei ist er auch ein lebendiger Mensch. Vielleicht denkt er: Die Alte hat ihr Leben gelebt, nun wird es Zeit, dass sie abtritt. Poggios Ankunft hat ihm den Kopf verdreht, klarer Fall. Stepan hat die Staffelei vom Dachboden geholt, hat sich Farben aus der Stadt mitgebracht, und seine Augen sind anders geworden. Nun, ich verstehe ihn und verurteile ihn nicht . . . Aber er hätte es mir auch ins Gesicht sagen können. Soundso, Marja Afanassjewna, ich habe genug für Sie gearbeitet, jetzt lassen Sie mich bitte gehen. Aber das sagt er nicht. Es ist ihm peinlich. Lieber eine alte Frau umbringen als undankbar vor ihr dazustehen. Ich kenne diese Sorte, da geht Stolz und Leidenschaft Hand in Hand . . . Doch nein, ich bin ja blind! Nicht Stepan war es, sondern Poggio!« Sie richtete sich mühsam auf. »Stepan hofft vielleicht insgeheim, dass ich bald abkratze, doch ein hilfloses Hundchen vergiften, nein. Aber Poggio, der ja! Nur spaßeshalber oder um einem Freund zur Freiheit zu verhelfen! Verdorben ist er, ein Satan! An Naina hat er sich rangemacht, hat Bildchen von ihr gemalt und sie photographiert. Und den Stepan bringt er durcheinander . . . Ich merke längst, dass er mich anguckt wie ein Wolf. Er war’s, er! Und hat sich hier als Dauergast eingenistet, den dritten Monat schon. Anfangs wollte er einen › knappen Monat ‹ bleiben. Er wird nicht abreisen, ehe er mich ins Grab gebracht hat!«
In kürzester Zeit wuchs ihr eine neue Überzeugung zu, so unerschütterlich wie die bisherigen.
»Sytnikow! Der ist ein furchtbarer Mensch, der braucht nur Gewinne, dafür verkauft er dem Teufel seine Seele. Nicht umsonst heißt es, er habe wegen des Geldes geheiratet und hinterher seine Frau vergiftet. Auch den Grund kenne ich, warum ich ihm im Wege bin. Das Gorjajewsche Ödland! Seit langem will er, dass ich’s ihm abtrete, weil er da einen Umschlagplatz errichten möchte, die Stelle passt gut dafür. Ich habe ihm gesagt, ich verkaufe nicht. Seine Lastkähne würden mir die ganze Aussicht vermiesen! Aber er gibt nicht auf. Alles muss nach seiner Nase gehen. Sonst macht ihm das Leben keinen Spaß. Seine Frau hat er zu Tode gebracht, und nun will er auch mich zu Tode bringen. Und wenn ich nicht mehr bin, werden ihm Pjotr und Naina nicht nur das Ödland, sondern alles hier verkaufen, und dann schleunigst ab in die Hauptstadt und ins Ausland. Also macht es für Donat Sytnikow Sinn, mich bald ins Jenseits zu befördern. Aber sie alle werden ihr blaues Wunder erleben.« Die Alte zeigte matt eine Feige. »Ich habe vor drei Tagen mein Testament noch einmal umgeschrieben und alles der Engländerin vermacht. Ich wollte denen nur einen Schreck einjagen, aber jetzt lasse ich’s so. Da sie mich nicht mehr leiden können, soll Janet Wrigley ihre Herrin sein. Dann werden sie schon sehen.«
Pelagia hatte den wirren Reden der Kranken anfangs sehr aufmerksam zugehört und sie in Beziehung gesetzt zu ihren eigenen Überlegungen und Beobachtungen, aber jede neue Hypothese übertraf
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