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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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    Siebenmal verrichtete der Bischof den vorgeschriebenen Ritus nebst Gebet, und jedes Mal löschte er eine Kerze. Marja Tatistschewa lag friedlich da, blickte demütig auf die Kerzenflammen und bewegte lautlos die Lippen, wie um es auszusprechen: »Herr, erbarm dich.«
    Nachdem Mitrofani die Gebete abgeschlossen hatte, zog er einen Stuhl ans Bett, setzte sich und sagte mit alltäglicher Stimme:
    »Mit dem heiligen Abendmahl warten wir noch ein bisschen. Ich denke, es wird genug sein mit der Letzten Ölung.«
    Die Kranke zuckte unzufrieden mit dem Mundwinkel und stöhnte kläglich, aber der Bischof wischte es mit der Hand weg.
    »Lieg still und hör zu. Du bist seit gestern Abend nicht gestorben, also kannst du auch warten, solange der Bischof mit dir redet. Und wenn du dennoch sterben willst, dann aus Trotz.«
    Nach dieser Präambel schwieg der Bischof ein Weilchen, dann sprach er anders weiter, halb laut, doch traurig und gefühlvoll.
    »Man bekommt oft zu hören, darunter auch von Leuten, die nicht blind, sondern sehenden Auges glauben, das Leben wäre eine kostbare Gabe Gottes. Mir aber will scheinen, dass es überhaupt keine Gabe ist, denn eine Gabe möchte der Seele und dem Körper nur Annehmlichkeit bereiten, doch im Leben der sterblichen Menschen ist wenig Annehmlichkeit vorgesehen. Körperliche und seelische Martern, Sünden und Laster, der Verlust von Nahestehenden – das ist unser Leben. Eine schöne Gabe, nicht? Darum denke ich, man soll das Leben nicht als Gabe auffassen, sondern als eine Art Kirchenbuße, wie sie Mönchen auferlegt wird, und jeder Mensch bekommt seine eigene nach Maßgabe seiner Kräfte, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Kraft der Seele ist bei uns allen verschieden, also sei es auch die Last der Buße. Wen Gott lieb hat, den nimmt er schon im Säuglingsalter zu sich. Anderen misst er eine mittlere Frist zu, und wen er besonders prüfen will, den belastet er mit langem Leben. Die Gabe kommt dann, nach dem Leben. Wir unvernünftigen Sünder fürchten sie und nennen sie Tod, dabei ist der Tod die lang ersehnte Begegnung mit unserem Allgnädigen Vater. Der Herr prüft jeden auf seine Weise und wird sich in SEINEM unendlichen Erfindungsreichtum niemals wiederholen, doch ist es eine große Sünde und ein großer Verdruss für den Schöpfer, wenn jemand eigenmächtig die ihm zugemessene Bußfrist verkürzen will. Nicht der Mensch bestimmt die Begegnung mit IHM, sondern Gott allein. Darum verhält sich die Kirche so unbeugsam zum Selbstmord und sieht in ihm die schlimmste Sünde. Wenn es dir schlecht geht, wenn du Schmerzen hast, wenn dir bitter ist – dulde. Der HERR weiß, wie viel Festigkeit in einer Seele ist, und ER wird SEINEM Kind keine zu schwere Last aufbürden. Es soll dulden und ertragen, und das wird seine Seele läutern und erheben. Aber was du machst, ist Selbstmord.« Mitrofani sagte es ärgerlich und gab den vertraulichen Ton auf. »Du bist eine gesunde, kräftige alte Frau! Warum spielst du hier Komödie? Wegen einer weißen Bulldogge betrübst du Gott den Herrn und willst deine Seele verderben! Du bekommst von mir nicht die Absolution vor dem Tode, merke es dir, denn die heilige Kirche kennt mit Selbstmördern keine Nachsicht! Und solltest du trotzen wollen, so lasse ich dich außerhalb der Friedhofsmauer in ungeweihter Erde begraben. Und dein Testament werde ich bei den weltlichen Behörden anfechten, denn das Vermächtnis eines Selbstmörders ist nach russischem Gesetz unwirksam!«
    Die Augen der Sterbenden sprühten wütende Funken, die Lippen mümmelten, aber kein Laut kam heraus. Dafür erzitterten die fromm über der Brust gefalteten Hände, und die oben liegende Rechte zeigte mühsam den Daumen zwischen Zeige – und Mittelfinger.
    »Na bitte«, rief der Bischof erfreut. »Du willst mit dem Zeichen des Teufels aus dem Leben gehen. Das passt zu dir. Wenn du tot bist, werde ich nicht dulden, deine Finger zu lösen, dann kannst du mit der Feige im Sarg liegen, und alle werden es sehen.«
    Die Witwe lockerte die Finger, und die Rechte legte sich würdevoll wieder auf die Linke.
    Der Bischof schüttelte den Kopf und sagte sanft, als könne er nie die Beherrschung verlieren:
    »Schau, Marja, du hast in deinem Leben viele bittere Schalen leeren müssen: Deinen geliebten Mann hast du zu Grabe getragen, vier Kinder hast du überlebt. Und bist nicht gestorben. Sind dir wirklich diese stumpfschnäuzigen Köter lieber als deine Angehörigen? Das wäre

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