Akunin, Boris - Pelagia 01
schändlich.«
Mitrofani wartete auf irgendein Zeichen, aber die Witwe schloss nur die Augen.
»Ich weiß, in dir ist noch viel Leben, du hast deine Zeit nicht verbraucht. Und noch eines musst du bedenken. Wem Gott ein langes Leben zugemessen hat, der hat es am schwersten, denn seine Prüfung währt sehr lange. Dafür wird ihm aber eine besondere Belohnung zuteil. Je länger ich auf der Welt lebe, desto mehr deucht mich, dass ein hinfälliges Alter weniger eine Prüfung ist als vielmehr eine Gnade Gottes. Eine wirkliche Gabe. Erst im vorgerückten und weisen Alter verliert der Mensch die Todesangst. Das Welken des Fleisches und das Erlöschen des Verstandes sind eine treffliche Vorbereitung auf das andere Leben. Der Tod fällt dich nicht mit einem Schlag, sondern kommt langsam, tropfenweise, und das ist wohl nicht gänzlich ohne Süße. Nicht umsonst weilen viele hochbetagte Mönche, Skimniks (Skimnik - Mönch der strengsten Ordensregel, D.Ü.) , an der Neige ihrer Jahre weniger hier als dort, in paradiesischer Seligkeit. Es kommt vor, dass ihr Fleisch nach dem Tode nicht verwest, zum Erstaunen der Menschen. Aber was reden wir von heiligen Mönchen. Jeder sehr alt gewordene Mensch hat alle seine Bekannten, die er liebte oder hasste, schon dort, sie warten auf ihn, darum hat er keine Furcht. Er weiß ja, dass alle – die klüger waren als er oder dümmer, böser oder gütiger, mutiger oder feiger –, alle, die er gekannt hat, die schreckliche Schwelle überschritten haben. Also ist sie gar nicht so schrecklich . . .«
Marja Tatistschewa hatte der umfänglichen Predigt des Bischofs gelauscht, und jetzt lächelte sie beruhigt. Mitrofani runzelte die Stirn, er hatte eine andere Reaktion erwartet. Er seufzte, bekreuzigte sich, redete ihr aber nicht mehr ins Gewissen.
»Nun gut, wenn du fühlst, deine Zeit ist gekommen, wenn du gerufen wirst, halte ich dich nicht. Dann gebe ich dir das heilige Abendmahl, spreche alle Gebete und lege dich in die geweihte Erde, wie es sich gehört. Ich wollte dich erschrecken. Stirb, so du es wirklich willst. Wenn das Leben dich nicht mehr hält, nicht mehr lockt, wie soll ich schwacher Mensch dich halten! Aber . . .« Er wandte sich dem Diakon zu und befahl: »Bringt sie her, Vater!«
Vater Alexi nickte und ging hinaus. Im Schlafgemach wurde es still. Marja Tatistschewa lag mit geschlossenen Augen da, und ihr Gesicht sah aus, als läge sie nicht mehr im Bett, sondern im offenen Sarg, aufgebahrt in der Kirche, und aus den hohen Gewölben sängen ihr die Engel süße Lieder. Mitrofani stand auf, trat zu einer Lithographie an der Wand und betrachtete sie interessiert.
Alsbald ging die Tür auf, und der Diakon und der Zellendiener brachten einen Korb herein, der oben eine kleine Öffnung hatte. Sie stellten ihn auf den Fußboden, verneigten sich vor dem Bischof und traten zurück zur Wand.
Im Korb raschelte es seltsam, und es piepste sogar. Pelagia reckte neugierig den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu linsen, aber Mitrofani hatte schon den Deckel abgenommen und senkte beide Hände hinein.
»Da, Tantchen«, sagte er mit normaler Stimme. »Das wollte ich Ihnen zeigen, solange Sie noch leben. Darum bin ich so spät gekommen. Auf mein Geheiß haben meine Abgesandten den ganzen Distrikt abgesucht, und ich habe sogar den Telegraphen benutzt, obwohl ich, wie Sie wissen, diese Neuerungen nicht mag. Bei dem Major a. D. Sipjagin fand sich in einem Wurf ein weißer Bulldoggenwelpe weiblichen Geschlechts. Auch das Ohr, schauen Sie, stimmt. Und aus Nishni Nowgorod kam vor zwei Stunden als Geschenk des Kaufmanns erster Gilde Saikin mit einem schnellen Dampfboot ein weißer Rüde, anderthalb Monate alt. Der ist in jeder Hinsicht eine Pracht. Die Hündin ist nicht ganz weiß, hat ein rötliches Näschen, doch dafür besonders krumme Beinchen. Sie heißt Mussja. Sipjagin wollte sie nicht hergeben, seine Tochter mochte sich nicht von ihr trennen. Ich musste mit dem Kirchenbann drohen, weil es den Tod einer Christenseele bedeutet hätte, was von mir sogar ungesetzlich war. Der Rüde hat noch keinen Namen. Schauen Sie, sein Ohr ist braun, die Nase, wie vorgeschrieben, rosa und gesprenkelt und, vor allem, die Schnauze sehr platt. Wenn sie groß sind, kann man sie neu kreuzen. Dann ist die weiße Bulldogge in zwei bis drei Generationen wiederhergestellt.«
Er zog die beiden dickbäuchigen Welpen aus dem Korb. Der eine war etwas größer, kläffte böse und strampelte mit den Pfoten, der
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