Akunin, Boris - Pelagia 01
aufgerissenen Augen zur Decke, und ihre pummeligen Finger tasteten unruhig über den Saum der Zudecke, wie um etwas wegzuwischen, was aber nicht gelang.
Mit der schnellsten Troika wurde der Arzt aus der Stadt geholt. Er befühlte die Kranke da und dort, drückte, horchte ab, gab ihr eine Spritze, damit sie nicht erstickte, ging dann hinaus in den Korridor und sagte:
»Es geht zu Ende. Sie braucht die Letzte Ölung.«
Dann saß er im Salon, trank Tee mit Kognak, plauderte halblaut mit Schirjajew über die Ernteaussichten und schaute alle halbe Stunde ins Schlafzimmer, ob die Kranke noch atmete. Sie atmete noch, doch schwächer und schwächer und sank immer wieder ins Vergessen.
Lange nach Mitternacht wurde der Geistliche aus dem Bett geholt und hergebracht. Er war zerzaust und nicht ganz wach, doch im vollen Ornat und mit den geweihten Gaben. Als er aber bei der Sterbenden eintrat, schlug sie die Augen auf und machte lallend deutlich: Ich will nicht.
»Sie wollen nicht die Letzte Ölung, Großmutter?«, fragte erschrocken Pjotr, den die dramatischen Ereignisse stark verstörten.
Die Sterbende schüttelte kaum erkennbar den Kopf.
»Was möchten Sie dann?«, fragte Pelagia, über sie gebeugt. »Einen Popen?«
Die Witwe schloss die Lider, öffnete sie wieder, hob mühsam einen zitternden Finger und zeigte zur Seite und nach oben.
Pelagia folgte der Richtung ihres Fingers. Da war nichts Besonderes zu sehen: die Wand, eine Lithographie der Stadt Petersburg, ein Porträt des verstorbenen Apollon Tatistschew und ein Photo von Mitrofani im vollen Bischofsornat.
»Sie möchten die Letzte Ölung vom Bischof?«, erriet die Nonne.
Die Witwe schloss wieder die Lider und ließ den Finger sinken. Also ja.
Wieder wurde nach Sawolshsk geschickt, auf den Klosterhof, und man wartete auf Mitrofani.
Bis zum Morgen ging niemand schlafen, alle streiften durchs Haus. Irgendwo unterhielten sich leise zwei oder drei Leute, ein anderer saß allein da. Pelagia konnte die Leute nicht beobachten, leider, denn das hätte mancherlei Aufschluss gegeben. Womöglich hätte sich der Mörder des kleinen Sakussai irgendwie verraten. Aber die Christenpflicht stand über den weltlichen Sorgen, und so saß die Nonne unentwegt bei Frau Tatistschewa, sprach Gebete und flüsterte Worte des Trostes, welche die Leidende wahrscheinlich gar nicht hörte. Erst im Morgengrauen ging Pelagia für eine halbe Stunde in den Park und kehrte höchst nachdenklich zurück.
Die Sonne ging auf, kletterte immer höher, schon war die Mittagsstunde vorüber, doch der Bischof kam nicht. Der Arzt schüttelte den Kopf und sagte, die Kranke halte nur aus Trotz noch durch, sie habe sich in den Kopf gesetzt, unter allen Umständen die Ankunft ihres Neffen abzuwarten und nicht eher zu gehen, als bis sie ihn vor sich sehe.
Der Anwalt Korsch kam. Bubenzow setzte Pelagia vor die Tür, damit sie beim Umschreiben des Testaments nicht störte. Als Zeugen berief er Selig und Krasnow, denn Naina verließ ihr Zimmer nicht, und Pjotr bat, ihn zu verschonen; Schirjajew verzog angewidert das Gesicht – jetzt an das Testament zu denken.
All das missfiel Pelagia außerordentlich, aber sie konnte nichts tun. Donat Sytnikow kam, mochte sich aber nicht in die Familienangelegenheiten einmischen – sollte alles seinen Gang gehen (woraus folgte, dass er gar nicht so sehr auf das Gorjajewsche Ödland erpicht war, wie es die misstrauische Marja Tatistschewa geargwöhnt hatte).
Aber vergeblich waren Bubenzows Bemühungen um die Sterbende, eine Neufassung des Testaments kam nicht zu Stande. Nach einer Stunde verließ Korsch das Schlafzimmer, wischte sich den Schweiß ab und bat um Kwass.
»Es ist nirgendwo üblich, aus einem Lallen den letzten Willen eines Menschen zu erraten«, sagte er verdrossen zu Pelagia. »Ich bin doch kein Jahrmarktsclown, sondern Mitglied der Notarsgilde.« Und er befahl, seinen Wagen anzuspannen, wollte auch nicht zum Mittagessen bleiben.
Bubenzow sprang ihm aufgebracht hinterher, holte den Widerspenstigen ein, fasste ihn am Ellbogen und flüsterte laut auf ihn ein. Was, blieb unbekannt, aber Korsch reiste trotzdem ab.
Wutentbrannt schrie Bubenzow der Kutsche hinterher:
»Das wird Ihnen noch Leid tun!«
Der Anwalt fuhr davon, aber ständig trafen neue Gäste ein, die von dem traurigen Ereignis gehört hatten: Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, die Notabein aus dem Gouvernement, sogar der Adelsmarschall. So viel Menschen wären kaum erschienen, um sich von der
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