Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alanna - Das Lied der Loewin

Alanna - Das Lied der Loewin

Titel: Alanna - Das Lied der Loewin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamora Pierce
Vom Netzwerk:
erklärte er ihr streng. »Ohne Algebra kannst du keine sichere Brücke, keinen ordentlichen Kriegsturm, kein Katapult, keine Windmühle und kein Bewässerungsrad bauen. Es gibt unendlich viele Anwendungsgebiete,
und lernen kannst du Algebra, indem du sie studierst, und nicht, indem du mich anstarrst.«
    Tatsächlich starrte Alanna ihn an. Der Gedanke, dass ausgerechnet Mathematik Dinge wie Windmühlen und Katapulte zum Funktionieren brachte, war erstaunlich. Und als ihr klar wurde, wie schwer die Aufgaben waren, die sie für den nächsten Tag erledigen sollte, war sie noch erstaunter.
    Als Gary herüberkam, um ihr zu behilflich zu sein, fragte sie ihn wieder: »Wann soll ich das alles erledigen? Ich muss für morgen vier Aufgaben lösen, und es ist schon fast Zeit für die nächste Stunde!«
    »In deiner Freizeit«, entgegnete Gary. »Und in der Zeit, die dir jetzt noch verbleibt. Hör zu – wenn du nicht klarkommst, dann biete Alex an, ihm bei seinen Extrapflichten zu helfen. Was Mathematik betrifft, ist er ein richtiger Rechenkünstler.« Die Glocke läutete. »Komm, wir gehen, Kleiner.« In der nächsten Unterrichtsstunde ging es um Umgangsformen – oder vielmehr um die Manieren, wie sie ein Edelmann an den Tag legen sollte. Alanna hatte schon frühzeitig gelernt »Bitte« und »Danke« zu sagen, aber sie merkte rasch, dass das nur die einfachsten Grundbegriffe waren. Sie wusste nicht, wie man sich verneigte. Sie wusste nicht, wie man einen Lord im Gegensatz zu einem Grafen anredete. Sie wusste nicht, welcher der drei Löffel bei einem Bankett zuerst benutzt wurde. Sie konnte nicht tanzen und sie beherrschte kein Instrument. Der Lehrer gab ihr einen riesigen Band mit Benimmregeln zu lesen und befahl ihr, sofort Harfenunterricht zu nehmen – in ihrer Freizeit.
    »Aber ich muss doch heute Abend in meiner Freizeit das erste Kapitel hiervon lesen!«, erklärte sie Gary, und Alex und pochte auf das dicke Etikettebuch. Sie saßen während ihrer
Vormittagspause, die ganze zehn Minuten dauerte, auf einer Bank. »Und vier Mathematikaufgaben habe ich auch zu lösen, und dann ist da noch der Rest von diesem blöden Gedicht ...«
    »Ah«, sagte Gary verträumt. »Freizeit. Davon habe ich auch schon mal gehört. Mach dir nichts vor, Feuerkopf. Bei den zusätzlichen Unterrichtsstunden, die du sowieso schon jeden Tag kriegst, ist Freizeit eine Illusion. Freizeit hast du, wenn du tot bist – als Belohnung der Götter für ein Leben, in dem du von Sonnenaufgang bis Mitternacht geschuftet hast. Das wird uns allen früher oder später klar – die einzige freie Zeit, die du hier hast, ist diejenige, die dir mein ehrenwerter Vater möglicherweise zugesteht, wenn er der Meinung ist, du habest sie verdient.«
    »Und die gibt er dir nicht abends«, warf Alex ein. »Die gibt er dir, wenn du eine Weile hier warst, am Markttag und manchmal einen Vormittag oder einen Nachmittag, den du ganz allein für dich verbringen darfst. Aber niemals einen Abend. Abends lernst du. Tagsüber lernst du. Im Schlaf ...«
    Die Glocke bimmelte.
    »Ich könnte lernen diese Glocke zu hassen«, murrte Alanna, während sie ihre Sachen einsammelte. Die beiden älteren Jungs grinsten und schleppten sie zur nächsten Unterrichtsstunde.
    Zu ihrer Überraschung war diese Stunde ganz anders. Die Jungen saßen aufrecht auf ihren Stühlen und sahen so aus, als wären sie gespannt auf das, was ihnen bevorstand. An den Wänden hingen Karten und Schaubilder. Vor den Stühlen stand ein Brett, auf dem mehrere große, unbeschriebene Papierbögen befestigt waren. Auf einem Tisch daneben lag eine Schachtel mit Kohlestiften.

    Als der Lehrer eintrat, wurde er freundlich begrüßt. Dieses Mal war es kein Priester. Der Mann war klein und dick, sein langes braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, sein langer Bart war struppig. Seine Kniehose war an den Knien ausgebeult; sein Waffenrock so zerknittert, als habe er darin geschlafen. Er hatte eine winzige, fein geschnittene Nase und auf seinen Lippen war ein Lächeln. Alanna sah in die großen, grünbraunen Augen des Mannes und musste unwillkürlich lächeln. Er wirkte so seltsam chaotisch und gutmütig zugleich, wie sie es noch nie bei jemandem erlebt hatte, und sie mochte ihn auf den ersten Blick. Er hieß Sir Myles von Olau.
    »Hallo!«, begrüßte er Alanna freundlich. »Du musst Alan von Trebond sein. Du bist ein ziemlich tapferer Kerl, dass du am ersten Tag bis jetzt durchgehalten hast. Hat dir jemand

Weitere Kostenlose Bücher