Alanna - Das Lied der Loewin
verraten, was wir hier lernen wollen?«
Alanna sagte das Erste, was ihr in den Sinn kam. »Ich weiß nur, dass ich gehorchen muss, wenn man mir etwas befiehlt, und dass ich keine Freizeit habe.«
Die Jungs kicherten und Myles lächelte. Alanna wurde rot.
»Entschuldigung«, murmelte sie. »Ich wollte nicht frech sein.«
»Macht nichts«, versicherte ihr Myles. »Dein Leben hier wird nicht einfach werden. Unser Ritterkodex stellt hohe Anforderungen.«
»Sir Myles, wollt Ihr schon wieder mit dem Kodex anfangen?« , fragte Jonathan. »Ihr wisst, dass wir Eure Meinung, er verlange uns zu viel ab, nicht teilen.«
»Nein, heute werde ich mich nicht wieder über den Kodex auslassen«, entgegnete Myles. »Erstens einmal werdet ihr mir nicht zustimmen, bis der Ruhm, ein Ritter und ein Edelmann
zu sein, seinen Glanz verloren hat und bis ihr seht, welchen Preis ihr für diese Lebensweise zahlen müsst. Und zweitens hat Herzog Gareth mir zu verstehen gegeben, dass unsere Kenntnisse über die Bazhir-Stämme nicht adäquat sind und dass wir ein höheres Niveau erreicht haben müssen, wenn er uns das nächste Mal mit seinem Besuch beehrt.«
»Wie bitte?«, fragte einer.
Myles sah Alanna an und seine Augen blitzten verschmitzt. »Ich vergesse des Öfteren, dass nicht jeder ein Gelehrter ist wie ich, und ich neige dazu, mich unverständlich auszudrücken. Also – anders formuliert – Herzog Gareth wünscht, dass ich die Bazhir-Kriege behandle, weil er findet, dass ich zu viel Zeit darauf verwende, mit euch über den Ritterkodex zu diskutieren, und zu wenig auf die Geschichte von Tortall und die Kriege – und das ist es ja, was ich euch beibringen soll.«
Alanna verließ nachdenklich den Unterrichtsraum, was sie sonst nur selten ernsthaft tat.
»Warum runzelst du die Stirn?«, fragte Gary, als er sie einholte. »Magst du Myles nicht? Ich schon.«
Überrascht blinzelte Alanna ihn an. »Oh, nein. Ich mag ihn sehr. Er kommt mir nur ...«
»Merkwürdig vor«, sagte Alex trocken. Er und Gary schienen enge Freunde zu sein. »Das ist das Wort, nach dem du gesucht hast – merkwürdig.«
»Alex und Myles diskutieren unentwegt darüber, was richtig ist und was falsch«, erklärte Gary.
»Tatsächlich scheint er mir sehr weise zu sein«, sagte Alanna zögernd. »Nicht dass ich viele weise Menschen kenne, aber...«
»Er ist auch der Trunkenbold des Hofs«, bemerkte Alex. »Komm – sonst ist das Mittagessen vorüber, bevor wir etwas abbekommen haben.«
Nach dem Essen hatten sie eine Stunde lang Philosophie. Fast wäre Alanna eingeschlafen, während der Priester seine Lektion über die Pflicht herunterleierte.
Schließlich nahm Gary sie mit nach draußen zu den weitläufigen Übungshöfen hinter dem Palast. Hier erhielten die Jungen ihre Ritterausbildung. Hier würde Alanna ihre Nachmittage und einen Teil ihrer Abende verbringen und sie würde nur nach drinnen gehen, wenn es regnete oder schneite – und manchmal nicht einmal dann. Hier würde sie das Turnierspiel, den bewaffneten Kampf mit Keule, Axt und Knüppel, Bogenschießen aus dem Stand und vom Pferd aus, Reiten und Kunstreiten erlernen. Hier würde sie auch lernen müssen hinzufallen, sich abzurollen und sich zu überschlagen. Sie würde schmutzig werden, sich Muskelrisse, Schrammen und Knochenbrüche holen. Sofern sie alles überstand, sofern sie beharrlich und zäh genug war, würde sie eines Tages voller Stolz einen Ritterschild tragen. Das Training hörte nie auf. Selbst dann, wenn ein Ritter schon seinen Schild trug, arbeitete er weiterhin auf dem Übungsgelände. War man nämlich nicht mehr in Form, so riskierte man, auf einem einsamen Weg von einem Fremden überwältigt und ermordet zu werden. Als Tochter eines an der Landesgrenze lebenden Lords wusste Alanna genau, wie wichtig die Kampfsportarten waren. Jedes Jahr musste sich Trebond gegen Banditen zur Wehr setzen. Gelegentlich versuchten die nördlich lebenden Bewohner von Scanra durch das Grimholdgebirge einzufallen, und somit lag Trebond an der vordersten Verteidigungslinie von Tortall.
Mit dem Bogen und mit dem Dolch konnte Alanna schon umgehen, sie war geschickt im Aufspüren von Fährten, und sie ritt auch recht gut. Doch sie lernte schnell, dass die Männer, die die Pagen und die Knappen unterrichteten, sie für einen blutigen Anfänger hielten.
Und sie war tatsächlich ein blutiger Anfänger. Ihr Nachmittag begann mit einer Stunde Liegestütze, Kniebeugen, Sprünge und Drehübungen. Ein
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