Alasea 02 - Das Buch des Sturms
tun hatten.
Als Elena das breite Grinsen in Krals Gesicht sah, da dieser sich zu ihnen gesellte, stellte sie die Frage, die sie schon lange beschäftigte. »Anscheinend macht es dir gar nichts aus, deine Heimat zu verlassen. Bist du denn kein bisschen traurig?«
Kral fuhr sich mit der Hand durch den dichten schwarzen Bart, während sein Gesicht einen weicheren, leicht belustigten Ausdruck annahm. »Wir pflegen eigentlich immer im Frühling aufzubrechen. Nun, da die Pässe nach dem langen Winter offen sind, teilt sich unser Stamm in verschiedene Gruppen auf, die jeweils ihre eigenen Pfade beschreiten. Erst im Herbst wird sich der gesamte Stamm wieder vereinen. Genau genommen nennen wir keinen Ort unsere Heimat. Solange wir Stein unter den Stiefeln und ein Herz in der Brust haben, sind wir zu Hause.« Er bedeutete ihnen mit einem Kopfnicken, dass sie weitergehen sollten.
Er’ril weigerte sich jedoch, sich von der Stelle zu bewegen. »Kral, du sprichst die Wahrheit, wie alle deines Volkes, aber vieles bleibt dabei ungesagt.« Er’ril blickte dem Mann aus den Bergen eindringlich in die Augen. »Ich glaube, ich weiß, aus welchem Grund du unbedingt von hier weggehen möchtest.«
»Und welcher Grund sollte das sein, Mann aus der Prärie?« Kral kniff die Augen ein wenig zusammen, und das Lächeln auf seinem Gesicht machte einem harten Zug Platz.
»Als wir uns damals in der Gastwirtschaft in Winterberg zum ersten Mal begegnet sind, hast du eine schicksalhafte Prophezeiung erwähnt, die mein Erscheinen bei deinem Volk ankündigt.«
Kral wandte schnell den Blick ab und betrachtete eingehend die Risse im Eis auf einer der Stufen.
»Es ist nicht die Reise, die vor uns liegt, die dein Gemüt so sehr in Wallung versetzt«, fuhr Er’ril fort, »sondern lediglich die Erleichterung darüber, dass ich dein Volk verlasse - und dein Stamm somit überleben wird.«
»Du beschämst mich mit deinen Worten«, murmelte Kral in Richtung des kalten Steins.
»Das war nicht meine Absicht. Nicht deshalb halte ich dich hier auf.«
»Warum dann?« fragte Kral missmutig.
»Um dir zu danken.« Er’ril kam eine Stufe näher und legte Kral die Hand auf die Schulter, woraufhin dessen Augen sich weiteten. »Ich habe dir bereits dafür gedankt, dass du uns Unterschlupf gewährt und mich von der Auswirkung des Koboldgiftes geheilt hast, aber ich schulde dir noch meinen Dank dafür, dass dein Stamm das Risiko auf sich genommen hat, mich bei sich aufzunehmen. Du kanntest die Prophezeiung, und trotzdem hast du mich mit zu dir nach Hause genommen.«
»Du schuldest uns keinen … Dank«, sagte Kral, dessen Zunge ein wenig ins Stolpern geriet. »Wir hätten uns gar nicht anders verhalten können. Wir sind an den Felsen gebunden und werden niemals unsere Pflicht vergessen - oder uns der Last der Prophezeiung entziehen.«
»Dennoch bin ich dir etwas schuldig, mein Freund.« Er’ril drückte Krals Schulter ein letztes Mal, dann wandte er sich wieder dem Weg zu, der hinauf zum Pass der Geister führte. »Auch wir Leute aus der Prärie wissen, was Ehre bedeutet.«
Elena bemerkte den Glanz der Hochachtung in den Augen des Gebirglers; dann drehte auch sie sich um und folgte Er’ril.
Während sie ihren Weg hinauf zum Pass fortsetzten, begann Er’ril auf dem rechten Bein leicht zu humpeln, da der Aufstieg seine Gliedmaße, die im vergangenen Herbst von dem Koboldmesser getroffen worden war, offensichtlich zu sehr beanspruchte. Das Gift des Dolches hatte den Präriemann vom Stamme der Standi abmagern und dahinsiechen lassen. Und obwohl er einige Zeit später seine Muskeln und seine Gestalt wiedergewonnen hatte, machten ihm die Nachwirkungen seiner Verletzungen beharrlich zu schaffen, besonders wenn er seine Kräfte verausgabte. Und Er’ril war nicht der einzige der Reisenden, der Narben trug. Jeder von ihnen hatte bei der ersten Begegnung mit dem Herrn der Dunklen Mächte Wunden davongetragen - auch wenn diese nicht unbedingt sichtbar waren. Und wer wusste schon, welche Kämpfe noch auszufechten sein würden, bis die Gruppe die verlorene Stadt erreichte?
Er’ril gelangte an den Scheitelpunkt des Weges und hielt inne. Seine Augen waren auf den offenen Pass gerichtet. »Ich halte den Plan immer noch für den puren Wahnsinn«, murmelte er.
Elena und Kral gesellten sich zu ihm.
Der Pass der Geister lag mit seinen Wiesen und sanften Hängen vor ihnen. Hier hatte der Frühling wahrhaftig das Hochland erreicht. Blühende Krokusse bildeten blaue und
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