Alasea 02 - Das Buch des Sturms
eine einzige Möglichkeit habe, mich von dem bösen Bann der Hexe zu befreien. Nur indem ich ihre vollständige Geschichte in ihrer ganzen Wahrheit niederschreibe, kann ich ihren Fluch abschütteln und endlich sterben. Verhalte ich mich etwa so träge, weil ich versuche, die Dauer meiner endlosen Existenz zu verlängern? Um vielleicht noch ein Jahrhundert - oder zwei oder gar drei - zu leben?
Nein. Die Zeit zerstört alle Illusionen über die eigene Person. Wie Wasser, das durch eine Schlucht fließt und eine immer tiefere Rinne gräbt, hat das Vergehen der Jahre die Schichten meiner Selbsttäuschung abgetragen. Dies ist der einzige Segen, den mir ihr verdammenswerter Fluch beschert hat: ein Herz, das jetzt klar sieht.
Diese Tage und Nächte der leeren Seiten entspringen nicht dem Wunsch, mein Leben fortzusetzen, sondern einzig und allein einer Angst, der lähmenden Furcht vor dem, was ich als Nächstes schreiben muss. Manche Wunden kann nicht einmal die Zeit heilen.
Ich weiß, ich muss die Geschichte ihrer finsteren Reise erzählen, auf einer vom langen Schatten der Hexe verdunkelten Straße. Dennoch scheue ich mich, diese Geschichte zu Papier zu bringen. Ihre Niederschrift würde nicht nur einen direkten Blick ins Antlitz der Schrecknisse, die die Straße säumten, erfordern, sondern der Legende würde dadurch, dass sie mit Tinte auf Papier festgehalten würde, auch mehr Wirklichkeit, Substanz und Form gegeben, während das Ganze bis jetzt nur eine Erinnerung ist.
Dennoch muss ich …
Nun also, da die strahlend hellen Tage und rosigen Sonnenuntergänge des Frühlings und des Sommers hinter mir verblassen, finde ich im kalten Wind und dem unschön gefleckten Himmel des Winters wieder den Willen zu schreiben. Dies ist die Jahreszeit, in der ich ihre Geschichte erzählen kann.
Ihre Geschichte aber beginnt zu einer anderen Jahreszeit.
Lauschen Sie einmal … Hören Sie, wie das Eis auf den Gebirgspässen aufbricht, wenn der Frühling endlich den Griff des Winters um die Gipfel des Zahngebirges löst und den Weg in die Täler öffnet? Hören Sie nur, wie das Eis stöhnt, ächzt und kracht, wie Donner, der den Beginn ihrer Reise verkündet.
Und wie alle Reisen, schlechte und gute, beginnt sie mit einem einzelnen Schritt …
ERSTES BUCH
Dunkle Pfade
1
Elena schob den Ledervorhang beiseite, der die behagliche Wärme des Feuers im Innern hielt, und trat aus der Höhle. Obwohl der Frühling bereits einen Monat währte, lag bei dem Bergvolk, das hier zwischen den Gipfeln lebte, über den frühen Morgenstunden immer noch ein Hauch von Eis. Außerhalb der Höhlen roch die Luft frisch, gewürzt vom Duft der Pinien und des Hochlandmohns, und an diesem Morgen ließ eine warme Brise bereits schwach den bevorstehenden Sommer ahnen.
Mit einem Seufzer schüttelte Elena die Kapuze ihrer grünen Wolljacke zurück und hob den Blick zu den Bergen. Noch mit Kappen aus schwerem Schnee angetan, schienen sie sich über sie zu neigen, als drohten sie zu kippen, und das Tosen von hundert Wasserfällen und reißenden Schmelzwasserbächen schallte durch das Tal. Nach einem langen Winter, in dem sowohl das Wasser als auch die Zeit für immer eingefroren zu sein schienen, war das Tauwetter des Frühlings wie die Geburt neuen Lebens.
Lächelnd machte Elena ein paar Schritte vorwärts, doch sogleich rutschte sie auf einem Fleck schwarzen Eises aus als sollte sie daran erinnert werden, dass der Winter das Hochland noch nicht vollständig aus seinem Griff freigegeben hatte.
Sie fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und landete mit dem Hinterteil auf dem steinigen Pfad.
Hinter sich hörte sie, wie nun auch Er’ril den ledernen Eingangsvorhang der Höhle beiseite schob. »Mädchen, es kann nicht angehen, dass du dir den Hals brichst, noch bevor wir überhaupt aus dem Gebirge heraus sind.« Er streckte die Hand aus, um ihr auf die Beine zu helfen. »Hast du dir wehgetan?«
»Nein. Alles in Ordnung.« Elenas Gesicht brannte so heiß, dass es das Eis unter ihr zum Schmelzen gebracht hätte. Sie ignorierte seine Hand und stand selbstständig auf. »Ich hab nicht aufgepasst … bin ausgerutscht …« Sie seufzte und wandte den Blick von ihm ab. Sie hatte das Gefühl, als ob seine grauen Augen unter den schwarzen Brauen sie immer nur kritisch musterten, jede ihrer Handlungen abschätzten. Und warum nahm er sie anscheinend nur in derartigen Augenblicken zur Kenntnis, wenn sie sich die Finger an einer Flamme
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