Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
riesigen runden Scheiben war alles vertreten. Nur eines war ihnen allen gemeinsam: Sie glühten bernsteingelb.
»Gestaltwandler«, flüsterte Merik.
Er’ril beobachtete fasziniert das schweigende Heer. »Was wollen sie?«
Günther stand neben ihm. »Wir haben immer wieder mit den Si’lura zu tun«, sagte er. »Wir treiben Tauschhandel mit ihnen. Aber einen solchen Aufmarsch habe ich noch nie erlebt.«
»Ich begreife das nicht«, schaltete sich Bryanna ein. »Sie sind immer sehr friedlich, solange man sie nicht reizt.«
Er’ril wechselte einen Blick mit Merik. Schon wieder Gestaltwandler aber warum? Worauf hatten sie es abgesehen?
»Vielleicht ist es das Pferd«, murmelte einer der anderen Fallensteller.
Er’ril sah ihn an. »Wie meinst du das? Was ist mit dem Hengst?«
Günther winkte mit seiner Axt ab. »Das ergibt keinen Sinn.«
Er’ril wollte genauer wissen, was es mit der seltsamen Bemerkung auf sich hatte. Seine Stimme wurde hart. »Heraus mit der Sprache.«
»Wir haben den Rappen ein paar Meilen von hier für ein Fässchen Enzianpulver eingetauscht«, sprudelte Bryanna hervor. »Man sagte uns, der Hengst käme aus dem überfluteten Wald, da, wo der Steinkogel umgestürzt ist. Wir dachten, wir könnten ihn in Schierlingsdorf für gutes Geld verkaufen in einem Holzfällerdorf besteht immer Bedarf an einem kräftigen Pferd.«
»Jetzt wissen wir auch, warum der Rappe so billig war«, brummte Günther in seinen Bart hinein.
»Was hat das mit den Si’lura zu tun?«
Bryanna sah ihn an. »Von ihnen haben wir den Hengst bekommen.«
Wieder starrten alle in den dunklen Wald hinaus. Hunderte von Augen leuchteten zurück. Was hatte das zu bedeuten?
Ni’lahn stemmte sich gegen ihre Fesseln. Sie war benommen und blutete aus einer Stirnwunde. Jemand hatte sie an den Stamm einer dicken Eiche gebunden, und sie konnte das Lied des mächtigen Baumes zwar hören, aber nicht darin einstimmen, weil man sie mit einem Stück Stoff geknebelt hatte. Ohne ihre Stimme war sie abgeschnitten von der Magik, die ringsum im Überfluss vorhanden war.
Zwischen den Bäumen hüpften, krochen und trabten, im Dunkeln kaum zu unterscheiden, Schatten hin und her. Ni’lahn hatte nur auf das Flackern des Lagerfeuers geachtet und war ahnungslos in eine Falle gelaufen. Das Baumlied des Waldes hatte sie nicht gewarnt. Aber seit wann wären Gestaltwandler für den Großen Wald auch ein Grund zur Besorgnis gewesen? Die Si’lura wohnten schon so lange in seinen Tiefen, wie es ihn gab, sie waren seine Hüter, wie die Nyphai es einst für Lok’ai’hera gewesen waren.
So war Ni’lahn blind und taub gewesen für diese Geschöpfe. Der Angriff war von oben erfolgt. Eine große Gestalt war von einem Ast gesprungen und hatte sie mit einer Keule niedergeschlagen. Sie war so überrascht gewesen, dass sie nur einen einzigen Schrei hatte ausstoßen können, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte. Als sie wenig später wieder erwacht war, war es völlig dunkel, und sie war geknebelt und an den Baum gefesselt.
Sie gab den Kampf gegen die Stricke auf und drängte mit tiefen Atemzügen die Panik zurück. Ihre Freunde waren nicht weit, und der Stoffknebel blockierte zwar ihre Zunge, ließ ihr aber doch einen kleinen Zugang zur Magik des Waldes offen. Sie holte noch einmal tief Atem, ihre Lider sanken herab, und sie begann mit tiefer Inbrunst zu summen. Die leisen Töne verschmolzen mit den Klängen des Waldliedes, bis beides eins geworden war.
Die Verbindung war nicht sehr stark, aber Ni’lahn erreichte die kleinsten Wurzeln der Eiche in ihrem Rücken und spürte, wie sich die Fäserchen durch die fruchtbare Erde nach oben schlängelten. Wenn sie bis zu den Fesselstricken vordringen und sie lockern könnten, sodass sie eine Hand frei bekäme …
Plötzlich ließ sich ein Knurren vernehmen. Es klang so drohend, dass ihr das Summen in der Kehle stecken blieb. Eine große Wölfin mit weißem Fell und glühenden Augen trat aus der Dunkelheit. Ni’lahn erkannte sie wieder. Es war die Gestaltwandlerin, von der sie und Merik durch die Straßen von Schierlingsdorf verfolgt worden waren.
Die Wölfin umkreiste knurrend den Baum. Als sie wieder in Sicht kam, war ihr Fleisch geschmolzen, und unter dem Wolfspelz entstanden die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Der Körper streckte sich und richtete sich auf. Die Wolfsschnauze verschwand, ein Frauenantlitz trat an ihre Stelle, nur die wild funkelnden bernsteinfarbenen Augen blieben unverändert.
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