Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
die Vernichtung von Land und Leuten zu rechtfertigen. Mehr als einen einzigen Satz aber brachte sie nicht über die Lippen: »Es tut mir Leid.«
Dorn blieb unvermittelt stehen und sah die Nyphai scharf an. Das Misstrauen der Wölfin blitzte aus ihren Augen.
Ni’lahn hielt dem Blick stand. »Ihr habt so viel verloren. Es tut mir aufrichtig Leid.«
Eine Falte erschien auf Dorns glatter Stirn. Das Feuer in ihren Augen wurde schwächer. »Warum?« Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine flehentliche Bitte.
Ni’lahn schüttelte langsam den Kopf. Sie hatte keine Erklärung. Sie wusste nicht, warum manche Wesen leiden mussten, damit andere in Freiheit leben konnten, und warum der Preis immer in Blut zu entrichten war. »Ich und meine Gefährten haben große Schuld auf uns geladen. Wir haben in den letzten Wintern zu ausschließlich auf die große Welt geschaut und sind blind geworden für all jene, die uns näher waren. Das haben wir uns vorzuwerfen. Aber da draußen wütet ein grausamer Krieg, der nicht nur Teile der Westlichen Marken bedroht, sondern den gesamten Wald. Es ist ein Kampf um das Herz des Landes.«
Leiser Zweifel spiegelte sich in Dorns Zügen.
»Nicht nur hier blutet die Welt«, fuhr Ni’lahn fort, »sondern auch in vielen anderen Teilen des Landes. Ich bedauere die Verluste eures Volkes, die Wunden, die dem Wald geschlagen wurden, aber ich kann mich nicht dafür entschuldigen, dass wir diesen Krieg führen. Der Wald blutet, aber seine Wunden werden heilen, und er wird sich erholen. Würde er jedoch von der Finsternis verschlungen, dann stürbe alles mit ihm.«
Dorn wandte sich ab. »Ich spüre, dass deine Worte von Herzen kommen. Aber der Stammesvater der Si’lura will, dass du mit deinen Gefährten vor den Rat von Wischnu trittst. Ihr müsst seinem Ruf folgen.«
Ni’lahn seufzte. »Ich werde mich nicht widersetzen. Und wenn ich den anderen erklären kann, worum es geht, werden auch sie es nicht tun.« Sie sah ein, dass es an der Zeit war, sich mit den Opfern dieses Krieges zu befassen, ihren Schmerz und ihre Trauer zu würdigen. Und Elena würde ihr nach dem, was sie in Schierlingsdorf erlebt hatte, sicher beipflichten.
»Dann will ich dir gestatten, mit deinen Gefährten zu sprechen. Sollte jedoch einer von euch zu fliehen versuchen …« Die Drohung endete in einem Knurren.
Ni’lahn spürte, wie brüchig dieser Waffenstillstand war. Der Wald gehörte den Si’lura. Selbst mit Elenas Magik würde es ihnen nicht leicht fallen, ihn zu verlassen. Sie mussten dem Befehl wohl oder übel Folge leisten und sich für das verantworten, was sie den Westlichen Marken angetan hatten.
Dorn löste die Seile, mit denen die Nyphai an den Baum gebunden war, ließ aber ihre Hände gefesselt. Ni’lahn stand auf und machte ein paar unsichere Schritte. Dorn fasste sie am Arm und stützte sie.
Ni’lahn richtete sich auf. Zahllose bernsteingelbe Augen funkelten zwischen den Bäumen. Sie spürte die Anspannung, den Zorn hinter diesen Blicken. Es würde nicht leicht werden, die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen.
Sie wandte sich an Dorn, um ihr für den kleinen Vertrauensbeweis zu danken.
Aus den Augen der Gestaltwandlerin schlug ihr immer noch Misstrauen entgegen, aber die Wut hatte sich gelegt. Trauer und Schmerz waren an ihre Stelle getreten. Dorn hatte offensichtlich jemanden verloren, der ihrem Herzen nahe stand. Und dieser Verlust hatte ihrem Zorn vermutlich weitere Nahrung gegeben.
Ni’lahn wiederholte noch einmal: »Es tut mir Leid.«
Dorns Blick wurde hart. »Wieso ist er nicht bei euch?« murmelte sie vor sich hin, ohne stehen zu bleiben.
Ni’lahn konnte mit der Bemerkung nichts anfangen. »Wer?« fragte sie erstaunt.
Dorn fletschte die Zähne. »Ferndal. Als ihr letzten Winter nach Norden gezogen seid, war er dabei. Ich hatte ihn selbst aufgespürt.«
Ni’lahn horchte auf. Nachdem die Si’lura Zwillingsbrüder vom Fluch der Erstarrung getroffen worden waren, hatte ihr Volk sie verstoßen und aus den Wäldern verbannt. Dorns Stimme allerdings verriet persönlichere Gefühle. »Du kennst Ferndal?«
»Er war mein Gefährte.«
Ni’lahn stolperte über einen Stein.
»Aber nach unserer ersten Paarung traf ihn der Fluch, und er wurde aus dem Clan ausgestoßen«, stieß Dorn zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ni’lahn ahnte den Kampf, den Zorn, Schmerz, Kummer und Trauer in der Brust der Si’lura ausfochten. Sie sah die enttäuschte Liebe in Dorns Augen und verstand,
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