Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
Endlich stand, aufrecht und ohne sich ihrer Nacktheit zu schämen, eine Frau vor Ni’lahn. Sie hatte langes, glattes weißes Haar, das ihr locker über den Rücken fiel.
»Wenn du noch einmal versuchst, dich mit deiner Magik zu befreien, reiße ich dir die Kehle heraus, bevor du zwei Schritte getan hast.«
Ni’lahn begriff, dass diese Drohung ernst zu nehmen war, und sah die Si’lura schweigend an.
Die Gestaltwandlerin musterte sie mit schmalen Augen. »Wir haben deine Gefährten eingekreist«, sagte sie leise. »Doch bevor wir angreifen, möchte ich wissen, warum du dein Gelübde dem Wald gegenüber gebrochen hast, Nyphai.«
Ni’lahn zog verwirrt die Stirn in Falten.
Eine Hand schoss auf ihr Gesicht zu. Ni’lahn wich zurück, aber die Finger fassten nur nach ihrem Knebel. »Ich gebe dir die Zunge frei, aber dein erster Magik Ton ist auch dein letzter.«
Ni’lahn nickte. Sie sah ein, dass sie nur dann eine Chance auf Befreiung hatte, wenn sie sich fügte.
Der Knebel wurde mit einer geschickten Bewegung gelöst und fiel zu Boden. Ni’lahn hustete. »W wer bist du?«
Die Si’lura richtete sich auf. »Ich heiße Dorn. Ich bin die Erste Fährtensucherin des Frischling Clans und die dritte Tochter des Stammesvaters. Du wirst dich vor meinem Vater und dem Rat von Wischnu für deine Gräueltaten gegen unseren Wald zu verantworten haben.«
Ni’lahn war fassungslos. »Was soll das heißen?«
»In den Marken geschieht nichts, was den Si’lura verborgen bliebe«, zischte Dorn. »Dich, Nyphai, beobachten wir, seit du in unseren Wäldern wiedergeboren wurdest.«
Ni’lahn konnte ihre Erschütterung nicht verbergen. Vor mehr als einem Winter hatte sie mit der Magik des Großen Waldes ihre Seele aus der Eichel geholt, in der sie bis dahin geruht hatte, und sie in einen neuen Körper versetzt. Bisher war ihr nicht bewusst gewesen, dass das Volk der Si’lura von ihrer Anwesenheit überhaupt Kenntnis hatte.
»Wir wissen auch, dass du mit deinen Gefährten im letzten Winter eine Schneise der Verwüstung durch unsere Wälder geschlagen hast.«
»Wir haben nichts zerstört. Wir wollten nur die Bresche im Nordwall schließen und die Grim Geister zurückschlagen, die an den Grenzen des Waldes ihr Unwesen trieben.«
»Ihr habt den Steinkogel eingerissen«, fauchte Dorn. »Er war eine heilige Stätte des Si’lura Volkes.«
Ni’lahn war sprachlos, doch sie entsann sich. Als der Fels zerstört wurde, hatte sie selbst gefangen in einem Wagen gelegen, der zur Burg Mryl fuhr. Sie hatte gespürt, wie ein heftiger Ruck durch den Wald ging, wie der umgestürzte Berg Bäche und Flüsse staute und eine Überschwemmung auslöste. An jenem Tag war ein großer Teil der Westlichen Marken verwüstet worden. »Jemand musste den Grim doch Einhalt gebieten«, verteidigte sie sich matt.
Dorn funkelte sie zornig an. »Die Folgen eures Tuns waren tausendmal schlimmer als die Bedrohung durch die Grim.«
Ni’lahn schwieg.
»Der Wald hat dir das Leben geschenkt, und du hast ihm dafür den Tod gebracht.«
»Du verstehst nicht …«
»Und nun der Mondsee«, fuhr die Gestaltwandlerin fort, ohne ihren Einwand zu beachten, und ging vor ihr auf und ab. »Von meinen Brüdern und Schwestern kamen hunderte ums Leben aber euch wurde kein Haar gekrümmt. Die Nachricht konnte sich mithilfe der Geistsprache rasch unter den Si’lura verbreiten. Wir haben dich erkannt. Du hast aufs Neue unsere Wälder heimgesucht und eine Spur des Grauens hinterlassen.« Die Stimme zitterte vor Zorn. »Damit ist es nun vorbei!«
Ni’lahn war wie vor den Kopf geschlagen. Doch in einem Winkel ihres Herzens konnte sie die Gefühle ihrer Anklägerin verstehen. Die Si’lura waren hier zu Hause, und sie wussten nichts von dem gewaltigen Krieg, der jenseits der Marken tobte. Fernab der großen weiten Welt sahen sie nur, wie immer wieder beträchtliche Flächen ihrer heimischen Wälder zerstört wurden. Und jedes Mal war dieselbe Person mit im Spiel.
Ni’lahn schaute in die zornigen Augen der Wolfsfrau und sah darin all jene, die in diesem Kampf der Magiker zwischen die Fronten geraten waren und von den kleinen Siegen gegen den Herrn der Dunklen Mächte nur mitbekamen, dass ihre Heimat und ihre Angehörigen dabei sterben mussten. Sie trugen die Hauptlast in dem großen Krieg, doch sie wurden schnöde vergessen, in keinem Lied, keiner Geschichte erwähnt
allein gelassen in ihrem Leid. Ni’lahn suchte in ihrem Herzen nach Worten, um ihr
Bedauern auszudrücken und
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