Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
konnte, bevor man mich entdeckte.«
»Es ergibt keinen Sinn«, sagte Elena.
»Mag sein, aber …« Harlekin sah vorsichtig über die Schulter und senkte die Stimme, »… es lässt den Schluss zu, dass die Si’lura noch andere Pläne haben als die, über die sie offen sprechen. Dass es Geheimnisse gibt, von denen nur das eigene Volk erfahren soll. Und wenn die beiden Gestaltwandler dabei eine wichtige Rolle spielen …« Harlekin zog eine Augenbraue hoch.
Elena schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wo die Schwierigkeit liegt.«
Er’rils Blick wurde grimmig. »Es könnte sein, dass die Si’lura uns nicht gehen lassen, um ihr Geheimnis zu wahren.«
»Du meinst, sie könnten uns einsperren?«
»Nur wenn wir Glück hätten«, sagte Harlekin. »Es gibt auch endgültigere Möglichkeiten, uns zum Schweigen zu bringen.«
Elenas Augen wurden groß.
Er’ril starrte in den Wald hinein, in dessen Schatten das Si’lura Heer lauerte. »Von nun an sollten wir sehr auf der Hut sein.«
Merik und Ni’lahn ritten hinter den anderen durch den dunklen Wald. Es war Nacht geworden, doch der Mond war noch nicht aufgegangen. Eine einzige Fackel erleuchtete den Weg durch das grüne Gewölbe. Dorn, die auf einem Pferd der Fallensteller ritt, hielt sie in der Hand. Die Bäume waren noch höher geworden und strebten in einem unübersehbaren Gewirr von Ästen himmelwärts. Die Sterne waren fast nicht zu erkennen.
»Ich kann es kaum fassen«, flüsterte Ni’lahn. Merik wandte den Blick vom Himmel ab. »Was für ein uralter Wald. Vielleicht so alt wie die Westlichen Marken selbst. Manche von diesen Bäumen findet man auf der ganzen Welt nicht mehr.« Sie wies auf einen spiralförmig zum Himmel strebenden Stamm. »Das ist ein Riesenknorren. Es heißt, sie seien schon vor Ewigkeiten ausgestorben, aber hier steht noch einer.«
»Ich habe so alte Wälder schon früher gesehen«, mischte sich Bryanna ein, die auf der anderen Seite von Ni’lahn ritt. Sie sah sich um. Der Weg war leer. Aus ihrer Stimme sprach ehrfürchtige Scheu. »Sie kommen überall in den Marken vor. Die Si’lura hüten die betreffenden Stellen, und wir Fallensteller meiden sie. Früher wollten die Holzfäller sie ausbeuten, doch wer das versuchte, wurde von den Gestaltwandlern ermordet. Diesen Boden zu betreten kann tödlich sein.«
Merik hielt mit einer Hand die Zügel, die andere lag auf dem Griff seines schmalen Schwerts, aber der kalte Stahl konnte ihn nicht beruhigen. Die Si’lura hatten es nicht für nötig gehalten, ihnen die Waffen abzunehmen und das verunsicherte ihn mehr, als wenn sie ihn und seine Gefährten gezwungen hätten, sich nackt auszuziehen.
»Dieser Hain ist der größte, den ich je gesehen habe«, sagte Bryanna leise. »Er erstreckt sich sicher eine Meile weit nach allen Seiten.«
»Und unter der Erde sogar noch weiter«, ergänzte Ni’lahn voll tiefer Bewunderung. »Das uralte Waldlied schallt aus schier unermesslichen Tiefen herauf. So etwas habe ich noch nie gehört. Es ist fast wie in Lok’ai’hera, und es wird mit jedem Schritt voller. Als reichte es hinab bis ins Herz der Welt.«
Sie schwieg lange. Endlich seufzte sie inbrünstig: »Ich wünschte nur, Rodricko könnte die Bäume sehen und das Lied hören.«
Merik runzelte die Stirn. Er konnte dieses andächtige Staunen nicht nachempfinden. Er sah nur die Schatten, die zu beiden Seiten vorbeiglitten, durchzuckt von bernsteingelben Blitzen, die verrieten, dass sie nach wie vor von einem feindlichen Heer umzingelt waren.
Weit vorn erhoben sich Stimmen. Merik horchte auf. Die Anführerin hatte am Fuß eines bewaldeten Hügels angehalten. Pferde und Männer scharten sich um die Fackel; ein Reiter löste sich aus der Gruppe und kam zu ihnen. Es war Harlekin. »Wir haben die Versammlungsstätte fast erreicht«, sagte er und deutete auf den Hügel. »Sie liegt hinter dieser Anhöhe. Von hier aus sollen wir zu Fuß gehen.«
»Zu Fuß?«
Harlekin nickte. Seine goldenen Augen funkelten empört. »Wir sollen alle unsere Sachen bei den Pferden zurücklassen, auch die Waffen. Wer bei der Ratssitzung mit einer Klinge ertappt wird, muss damit rechnen, auf der Stelle getötet zu werden.«
Merik umklammerte das Heft seines Schwerts.
Harlekin war die Bewegung nicht entgangen. »Dorn sagt, das Tal sei heiliger Boden, und niemand dürfe ihn mit Waffen betreten.«
Merik machte ein finsteres Gesicht, aber er ließ das Schwert los und glitt aus dem Sattel. Er war randvoll mit
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