Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
geschehen? Wir hörten, ein Schiff sei abgestürzt.«
»Ein Schiff, das von einem Erkundungsflug in den Norden zurückkehrte. Es stand unter dem Kommando einer Kusine von mir.« Merik verzog wie üblich keine Miene, doch Elena entgingen weder die Müdigkeit in seinen Augen noch der traurige Zug um den Mund. Nun hatte er abermals ein Mitglied seiner Familie verloren. Zuerst war sein Bruder in der Wüste umgekommen, danach hatte seine Mutter ihr Leben hingegeben, um die letzten Flüchtlinge aus seiner Heimatstadt zu retten. Seither waren die Elv’en in alle Winde verstreut, und auf Merik, dem letzten Spross des Königshauses, lastete die schwere Aufgabe, sein Volk hier zu vertreten. Hinter seinem Rücken wurde er immer wieder als ›König‹ gehandelt, doch diesen Mantel ließ er sich nicht umlegen. »Nicht, bevor unser Volk wieder vereint ist«, hatte er allen erklärt, die ihn dazu drängen wollten. Und jetzt dieser neue Verlust.
Elena seufzte. »Es tut mir Leid, Merik. Ganz Alasea blutet unter diesem Krieg.«
»Dann sollten wir ihn vielleicht nach Schwarzhall tragen, bevor wir vollends ausgeblutet sind«, grollte der Großkielmeister.
Elena wusste, dass es die De’rendi kaum erwarten konnten, mit ihrer mächtigen Kriegsflotte Kurs auf Schwarzhall zu nehmen. Dennoch überhörte sie die Kampfansage des alten Blutreiters und wandte sich abermals an Merik. »Was ist mit dem Schiff deiner Kusine geschehen?«
Merik betrachtete stirnrunzelnd seine Zehen. »Saag wan ist mit Ragnar’k hinuntergeschwommen, um das Wrack zu untersuchen.«
Elena spürte, dass Merik etwas zurückhielt, was ihn beunruhigte. »Was gibt es noch?«
Meriks blaue Augen blitzten scharf unter den silbernen Stirnfransen hervor. »Ich habe während des Absturzes mit Frelischa gesprochen. Sie hat ihr Leben eingesetzt, um uns warnen zu können und sie sprach von Verrat.«
»Verrat?« fragte Er’ril. Elena spürte, wie seine Finger sich fester um die Stuhllehne schlossen. »Was meinte sie damit?«
Merik schüttelte den Kopf. »Sie starb, bevor sie mehr sagen konnte.«
Elena sah sich nach Er’ril um. In seinen grauen Augen gewitterte es, aber seine strenge Miene wurde etwas weicher, und er nickte ihr beruhigend zu.
Meister Edyll meldete sich zu Wort. »Aus der Warnung deiner Kusine könnte man schließen, dass wir jemanden ins Vertrauen gezogen haben, der dessen nicht würdig ist.«
Elenas Blick huschte zu dem Fremden im Schellengewand. Sie war nicht die Einzige. Der Mann wandte ihnen den Rücken zu und starrte ins Feuer, aber Meister Tyrus spürte den Argwohn sofort.
»Für Harlekin Qual bürge ich mit meinem eigenen Blut«, sagte er und richtete sich auf.
Meister Edyll starrte auf den Grund seines Bechers und tat, als hätte er nichts gehört. »Zwei Botschaften aus dem Norden an einem Tag. Die eine drängt uns zu raschem Handeln. Die andere mahnt zur Vorsicht und weckt Zweifel an unseren Verbündeten. Man fragt sich, welcher von beiden man glauben soll. Vielleicht …«
Schellengeläut unterbrach den Ältesten der Mer’ai. Harlekin Qual war jäh herumgefahren. Sein bleiches Gesicht war zornrot, die goldenen Augen blitzten. »Ihr wollt wählen?« rief er erregt. »Ihr habt keine Wahl mehr! Wenn ihr mit euren Streitkräften nicht bis zur Mittsommernacht gegen das Schwarze Ungeheuer zieht, ist alles verloren.«
Meister Edyll machte große Augen, indes der Großkielmeister laut auflachte. Es klang eher drohend als belustigt. »Ein feuriges Kerlchen! Das gefällt mir!«
Meister Tyrus trat an Harlekins Seite. Neben ihm wirkte der Gaukler noch kleiner. »Man sollte die Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Wenn ihr an Harlekins Aufrichtigkeit zweifelt, kränkt ihr einen großen Mann. Als ich einst nach Port Raul kam und mich in der Kaste emporarbeitete, gab es nur einen Menschen, auf dessen Wort und auf dessen Mut ich mich bedingungslos verlassen konnte.« Tyrus legte Harlekin die Hand auf die Schulter. »Er hat viel gewagt, um auszukundschaften, wie sich der Herr der Dunklen Mächte gegen euch zu verteidigen gedenkt. Ihr mögt an ihm zweifeln, weil er euch fremd ist und das Schellengewand des Narren trägt, aber zweifelt ihr auch an mir?«
»Ich wollte niemanden kränken«, sagte Meister Edyll. »Aber in diesen schrecklichen Zeiten kann man nicht einmal mehr dem eigenen Bruder vertrauen.«
»Dann sind wir geschlagen, bevor der Kampf überhaupt begonnen hat. Wie können wir auf einen Sieg hoffen, wenn wir unseren eigenen
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