Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
Vergangenheit versunken. Er suchte nach dem kleinen Mädchen, das ihm einst auf Winterbergs kopfsteingepflasterten Straßen begegnet war. Auch für ihn war seitdem eine Ewigkeit vergangen.
Jetzt richtete sich ihr Blick wieder auf ihn. Was sah sie? Einen alten Mann mit dem Gesicht eines Jünglings? Was hatte er ihr noch zu bieten? Er hatte zugunsten dieser Frau auf seine Unsterblichkeit verzichtet und damit alle seine Hoffnungen für Alaseas Zukunft auf ihre schmalen Schultern gelegt. Mit einem Mal überkam ihn der Wunsch, vor ihr auf die Knie zu fallen und sie dafür um Verzeihung zu bitten.
Doch er blieb bei seiner Rolle: Ritter, Paladin, Beschützer … und ganz im Hintergrund auch Ehemann. In den letzten zwei Monden hatten sie es aufgegeben, ihr Herz zu verleugnen. Nach Elv’en Recht waren sie Mann und Frau, das Herz erkannte das an, doch der Körper war noch nicht bereit, danach zu handeln. So sehr Er’ril sich nach Elena sehnte, die gähnende Kluft der Jahre trennte sie voneinander. Sie war ein Kind mit dem Körper einer Frau. Er war ein Greis in Jünglingsgestalt. Der Unterschied musste erst noch mit vielen zärtlichen Berührungen, liebevollen Blicken und vorsichtigen Küssen überwunden werden.
»Er’ril«, mahnte Elena und erinnerte ihn an die Schlussfolgerung, die ihnen der Narr im Schellenkleid so sarkastisch präsentiert hatte: »Wir können über das, was Meister Qual uns dargelegt hat, nicht einfach hinweggehen. Es klingt zu überzeugend. Wir wissen, dass das Wyvern Tor auf dem Weg nach Winterberg war, als wir es entdeckten. Ich kann mir nicht vorstellen, was der üble Og’er mit nur einem Wehrtor erreichen will, aber wir müssen ihm Einhalt gebieten.«
Er’ril nickte. »Zweifellos. Die Frage ist nur, wie?«
»Wir haben die anderen Tore zerstört«, sagte Elena. »Nun werden wir auch dieses zertrümmern. Das Wyvern Tor ist die letzte Fessel, die Chi noch hält. Sobald es vernichtet ist, ist er befreit. Und der Herrscher von Schwarzhall verliert seine Macht.«
Er’ril verzog das Gesicht. »Das sagen die Geister.« Er selbst war nicht völlig überzeugt. Im vergangenen Mond hatten Elena und er mit den Geistern aus dem Buch des Blutes, dem Schatten von Tante Fila und dem Geistwesen Cho, viele Gespräche geführt. Chos Brudergeist Chi war vor fünfhundert Jahren in die Wehrtore hineingezogen worden und saß seither gefangen. Inzwischen waren drei der Tore beseitigt, und niemand wusste genau, warum Chi von diesem letzten Tor noch immer festgehalten wurde. Er’ril bezweifelte, dass das Problem allein durch die Zerstörung des Wyvern zu lösen war. »Wir können uns nicht blind darauf verlassen, dass die Geister in dieser Frage richtig urteilen.«
»Geister, Huren oder Narren was für eine Rolle spielt das?« fragte Harlekin vom Feuer her. »Ich habe Schorkans Nachricht an seine Gefolgsleute gelesen. Bis zur Mittsommernacht, so hieß es darin, würde der Kampf beendet sein. Den letzten Satz kann ich euch sogar wörtlich zitieren: ›Denn in dieser Nacht wird der Meister die Hexe und ihre Welt auf seinem Scheiterhaufen verbrennen‹« Harlekin zuckte die Achseln und knibbelte an einem Niednagel herum. »Ich weiß nicht, aber für mich klingt das ziemlich bedrohlich.«
Merik räusperte sich. »Auf jeden Fall klingt es eindeutig.«
»Es könnte auch eine Falle sein«, sagte Er’ril. »Um Elena aus der Reserve zu locken … oder uns zum Handeln zu verleiten, bevor wir dazu bereit sind.«
Der Großkielmeister verzog das Gesicht, als hätte er in einen faulen Apfel gebissen. »Oder eine Finte, um uns in die Spaltung zu treiben.«
Eine Weile dachten alle schweigend über die verschiedenen Möglichkeiten nach.
»Ich kann die Bedrohung für Winterberg nicht einfach übergehen«, sagte Elena endlich. »Ob Falle oder nicht, wir müssen versuchen, dieses letzte Tor zu zerstören.«
Er’ril spürte ihre Entschlossenheit und seufzte. »Und was ist mit dem Angriff auf Schwarzhall? Sollen wir damit warten, bis das Tor gefallen ist?«
Elena sah auf ihre behandschuhten Hände nieder. »Das können wir uns nicht leisten. Wir müssen die Elementarkräfte unserer Verbündeten gegen die Vulkanfestung einsetzen, bevor sie noch schwächer werden. Während der Herr der Dunklen Mächte mit seiner Verteidigung beschäftigt ist, gelingt es uns vielleicht, seine Pläne in den Bergen zu vereiteln.«
»Uns?« fragte Er’ril.
»Wenn dieses letzte Tor tatsächlich den Schlüssel zum wahren Ziel des Schwarzen Herrn
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