Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
auch auf sie über. Er stieß sich ab und sprang über die Reling. Dann breitete er die Schwingen aus und ließ sich von den Morgenwinden emportragen.
Ragnar’k schwebte himmelwärts. Das Meer unter ihnen war eine Hexenküche aus brodelndem Dampf, Eisschollen und kaltem Nebel. Ragnar’k umkreiste einen der kochenden Strudel und schwebte auf der warmen Luft in einer engen Spirale höher.
Saag wan sah hinab auf die Segel, die wie weiße Haiflossen zu hunderten durch den Morgendunst nordwärts zogen. Über ihr leuchteten die Kiele der Elv’en Flotte wie kleine Sonnen durch den Nebel. Der Kapitän des nächsten Schiffs hatte sie erspäht und winkte ihr zu.
Sie bedankte sich mit einem fast militärischen Gruß. Dann legte sich Ragnar’k in die Kurve und strebte ebenfalls nach Norden. Als er aus dem Nebel herauskam, lichtete sich das Grau ein wenig, aber die Sonne blieb nur ein matter Fleck hinter den schieferfarbenen Wolken.
Übler Berg, sendete Ragnar’k und grollte.
Saag wan schaute starr nach vorn. Oberhalb der Nebelbank konnte man nach allen Richtungen weit sehen nur im Norden endete die Welt an einem monströsen schwarzen Kegel, der durch den Nebel ragte, sich den Wolkenbänken entgegenreckte und aus dem Krater in seiner Mitte eine Rauchsäule ausstieß. Aus seitlichen Öffnungen quollen zischend kleinere schwarze Rauchschlangen. Überall auf den schwarzen Hängen flackerte es rot. Da und dort züngelten Flammen aus natürlichen Spalten und Lavaröhren, durch die man in den glutflüssigen Kern des üblen Berges sehen konnte. Oder es leuchteten Fackeln aus künstlich geschaffenen Öffnungen: Fenstern, Baikonen und Postenlöchern. Man munkelte, im Inneren gebe es tausende von Höhlen und Grotten.
Trotz seines schlimmen Rufs und seines bedrohlichen Aussehens war der Vulkan mit seinen rauchverhangenen Felsen von einer Majestät, der man sich nicht entziehen konnte. Selbst der Kraterrand war zu Türmen und Zinnen mit so scharf gezackten Konturen geformt, dass man nur schwer erkennen konnte, was davon natürlich entstanden und was von dunkler Magik und Monsterkrallen aus dem Fels gehauen worden war.
Saag wan glitt nordwärts, begleitet von Trommelschlägen und Hörnerklang, hinein in die flirrende Hitze, die der Berg abstrahlte. Dies war nicht die reine Wärme unter der Sonne des Archipels, sondern eine schwüle Fieberglut. Sogar die Luft stank, nicht nur nach Schwefel, sondern, übler noch, nach verwesendem Fleisch. Ihr Magen rebellierte. Unter ihr teilte sich die Decke aus Nebel und Eisdunst. Das Meer kam wieder zum Vorschein: eine unbewegte schwarze Fläche. Bald hatte sie auch die letzten Schiffe der Flotte hinter sich zurückgelassen.
Nicht tiefer gehen, ermahnte sie ihren Drachen. Sie waren ganz allein mitten im Feindesland. Ragnar’k schwang sich durch die Luft nach oben und wechselte in den Gleitflug, wobei er kaum die Flügel bewegte, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Unter ihnen blieb die See auch weiterhin leer, weit und breit zeigte sich kein einziges Schiff.
Wo waren die Streitkräfte des Herrn der Dunklen Mächte?
Bald überquerten die beiden den Felsenring, der den Vulkan umgab. Das zackige Riff wurde ›Schwarzhalls Krone‹ genannt und bildete, eine volle Meile von den schwarzen Sandstränden der eigentlichen Insel entfernt, einen unüberwindlichen Wall, so hoch wie die Burgmauern von A’loatal. Nur eine einzige Lücke gab es, durch die man in die dahinter liegende Lagune gelangen konnte.
Was hinter dem Felsring lag, ließ sich nur aus der Luft herausfinden und deshalb hatte man Saag wan auf diesen Flug entsandt. Die Elv’en Schiffe konnten sich nicht so nahe heranwagen, dafür waren sie zu langsam. Saag wan und Ragnar’k mussten die Kundschafter spielen.
Die beiden überflogen die Krone und spähten hinab. Saag wan wunderte sich. Die Lagune war ebenso leer wie das Meer vor dem Riff. An den Südhängen des Berges befanden sich umfangreiche Hafenanlagen mit etwa hundert Landungsbrücken und Stegen, die weit in die Lagune hineinragten. Doch auch der Hafen war verlassen. Kein einziges Schiff, nicht einmal ein Boot war an den Brücken vertäut. Alles war wie ausgestorben.
Trotz der Hitze, die der Berg ausstrahlte, fröstelte Saag wan.
Hinter dem Hafen zog sich eine kleine Siedlung den Hang hinauf. Hier verkehrten sonst die Matrosen und Seeleute von den Versorgungsschiffen. Viele schätzten zwar die Möglichkeit, einträgliche Geschäfte zu machen, hatten aber Angst, einen Fuß ins
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