Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
wusste er, dass sie ohnehin schon so gut wie verloren war; das Ungeheuer in ihrem Schädel wurde unaufhaltsam stärker. Und sie war ebenso untrennbar damit verbunden wie er mit Ragnar’k.
So versank er mit einem festen Entschluss im Herzen in der Finsternis des Drachen.
Dies ist der Tag, an dem ich sterben werde.
Saag wan beugte sich über ihren Drachen. Ihre Schultern bebten in lautlosem Schluchzen. Frei, sang ihr Herz doch zugleich sehnte sie sich verzweifelt nach Kast. Nur ein strahlender Augenblick war ihr vergönnt gewesen, sie hatte seine Wange in ihrer Hand gespürt, er hatte sich über sie gebeugt, um sie zu küssen und schon war er in einem Wirbel aus Schwingen und Schuppen verschwunden, hinweggerafft von einem uralten Bann. Die Freude über ihre Freiheit konnte die Trauer über den Verlust nicht aufwiegen. In ihrem Herzen tobte ein Sturm, sie weinte bitterlich.
Leibgefährtin, sendete Ragnar’k sanft. Du hast ihn doch nicht verloren. Er ist bei uns.
Saag wan streichelte ihr Reittier. Sie teilten zwar ihre Gefühle miteinander, aber der Drache konnte nicht bis in die Tiefen ihres Herzens vordringen, und das schlichte Verlangen einer Frau nach der Berührung ihres Geliebten war ihm fremd. Dabei konnte eine Zärtlichkeit mehr sagen als tausend Worte, und ein Kuss war wie ein endloser Chor.
Doch das alles blieb ihr versagt, und darunter litt sie fast mehr als unter der Gefangenschaft in ihrem eigenen Kopf.
Sie hob das Gesicht dem dunklen Himmel entgegen. Über dem Meer lag eine Nebeldecke, sodass nur die nächsten Schiffe zu erkennen waren. Hörnersignale schallten über das Wasser. Sie holte tief Atem. Sie hatte einen klaren Auftrag erhalten: Sie sollte Schwarzhalls üble Sandstrände abfliegen und die Verteidigungsanlagen auskundschaften. Sobald sie ihre Pflicht erfüllt hatte, musste sie in ihr Gefängnis zurückkehren und warten, bis man sie wieder brauchte.
Eine Stimme rief nach ihr. Meister Edyll kam trotz seines Gehstocks mit schnellen Schritten auf sie zu. Zwei Kinder folgten ihm: Scheschon und Rodricko. »Saag wan!« keuchte der Mer’ai Älteste in die eisige Morgenluft. »Eine Bitte!«
Sie lächelte ihm zu.
Er trat näher, und seine Miene verfinsterte sich. »Kind, was hast du denn?«
Sie wischte sich die letzten Tränen ab. »Du solltest unter Deck bleiben. Wir fahren in unheimliche Gewässer ein.«
Er runzelte die Stirn. »An diesem Schreckenstag ist man nirgendwo sicher. Und wenn du mit dem Drachen unterwegs bist, hätte ich ein Anliegen.« Scheschon drängte sich rechts an ihm vorbei und der kleinere Rodricko links. Er strich dem Mädchen über den Kopf. »Die Kinder haben von deinem Flug gehört, und seitdem betteln oder quengeln sie unentwegt, ich soll sie zu dir bringen.«
Saag wan hob eine Augenbraue. »Was wollen sie denn?«
»Das sollen sie dir am besten selbst erklären.« Meister Edyll legte die Hände auf Scheschons schmale Schultern und schob sie nach vorn. »Nur zu. Sag es ihr.«
Scheschons Augen wurden so groß wie Untertassen, als der Drache den Kopf herumschwenkte und die drei anstarrte.
Das Kind ist schon früher mit uns geflogen, sendete Ragnar’k und schnüffelte geräuschvoll, womit er Scheschon ein erschrockenes Quieken entlockte. Rodricko verkroch sich in Meister Edylls Umhang.
»Keine Angst, mein Kleines«, tröstete Saag wan. »Er tut dir nichts. Was kann ich denn für euch tun?«
Scheschon wandte den Blick nicht von den riesigen schwarzen Drachenaugen. »Ich … wir … Roddie und ich … wir möchten, dass du etwas zu diesem Feuerberg bringst.«
Saag wan zog die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Meister Edyll schaltete sich ein. »Lass das Kind doch erst ausreden«, drängte er, zog Rodricko aus den Falten seines Umhangs hervor und schob ihn ebenfalls nach vorn. Rodricko hielt in seinen Fingerchen ein Zweiglein mit einer einzelnen Blüte. Saag wan hatte schon gehört, dass der Junge durch diese Blüte mit seinem Baum auf der Insel verbunden war. Nur so war es ihm möglich, fern von dem Schössling, mit dem er eine feste Bindung eingegangen war, zu überleben.
Als Rodricko neben ihr stand, richtete sich Scheschon auf und war sichtlich bemüht, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. »Wir möchten, dass du Roddies Blüte mitnimmst, wenn du zu dem Vulkan fliegst.«
Rodricko war von dem Plan offensichtlich weniger angetan. Er drückte den Zweig fest an die Brust.
Saag wan kniff die Augen zusammen und sah Meister Edyll über die
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