Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
weiß.«
Merik stieg geistesabwesend mit dem nassen Logbuch unter dem Arm die lange Wendeltreppe hinunter. In Gedanken war er bei seiner Kusine. Ihr Unglück beschäftigte ihn so sehr, dass er kaum mitbekam, wie Hant und Meister Tyrus hinter ihm in Streit gerieten. Der De’rendi und der Piratenhauptmann waren sich nicht grün. Bevor sie das Schicksal hier zusammengeführt hatte, waren sie Todfeinde gewesen, zwei Haie, die sich in den südlichen Meeren von arglosen Handelsschiffen ernährten, wenn sie sich nicht gegenseitig aufzufressen suchten. Der alte Hass hatte tiefe Wurzeln.
»Ihr mögt die schnelleren Schiffe haben«, knurrte Hant, »aber sie brechen auseinander wie dünne Äste.«
»Immerhin fahren auf unseren Schiffen freie Männer. Keine Sklaven!«
»Das war ein uralter Eid!« fauchte Hant. »Ein Ehrengelübde … aber was versteht ein Freibeuter wie du schon von Ehre?«
Das Ende der Treppe kam in Sicht. Merik ging schneller, um den zänkischen Stimmen zu entkommen, und stieß prompt mit Ni’lahn zusammen.
Sie wich zurück und betrachtete die vielen Männer auf der Turmtreppe mit großen Augen.
Dann stolperte sie, und Merik fing sie auf.
»Prinz Merik!« rief sie, als sie sich wieder gefangen hatte.
»Papa Hant!« ließ sich ein Stimmchen vernehmen. Hinter der Nyphai tauchte eine kleine Gestalt auf und schoss mit fliegendem schwarzen Haar auf den Blutreiter zu.
Der Hüne bückte sich, hob das Kind auf und setzte es mit Schwung auf seine Schulter. »Scheschon, was machst du denn hier?«
»Wir waren auf dem Platz mit den vielen Blumen«, sprudelte Scheschon hervor. »Und dann hat Rodricko gesungen und noch mehr Blumen gemacht.« Sie zeigte auf den schüchternen Jungen neben Ni’lahn. Er hatte sich unter den Mantel seiner Mutter geflüchtet und lugte ängstlich hervor. »Und ich habe eine Fliege gegessen«, beendete die Kleine voller Stolz ihren Bericht.
»Du hast was?«
»Sie ist mir in den Mund geflogen«, erklärte sie so entschieden, als sei jedes weitere Wort überflüssig. Der Großkielmeister drängte sich an seinem Sohn vorbei und beklagte sich bitter über das Treppensteigen. Meister Edyll pflichtete ihm bei. »Warum müssen diese elenden Türme nur so schrecklich hoch sein?«
Die beiden Ältesten entfernten sich durch den Korridor. Hant dankte Ni’lahn mit einem Kopfnicken und folgte mit Scheschon seinem Vater.
Merik blieb mit der Nyphai, Klein Rodricko und Meister Tyrus, der das Netz mit dem Schwarzsteinei trug, allein zurück. Der Pirat und der Elv’e sollten Ei und Logbuch zu den Gelehrten in der Bibliothek bringen.
»Wohin willst du denn?« wandte sich der Elv’e an Ni’lahn.
»Ich muss Elena sprechen.«
Merik schaute zur Wendeltreppe zurück. »Du kommst nicht sehr gelegen. Sie hat im Moment mehr als genug um die Ohren.« Erst als er sich wieder umdrehte, bemerkte er Ni’lahns bestürztes Gesicht und die verweinten Augen. »Was hast du?«
Die Nyphai schien völlig außer sich. Sie betrachtete unschlüssig die vielen Stufen. Dann wanderte ihr Blick zu dem kleinen Blondschopf. »Es … es ist Rodrickos wegen.«
Auch Merik sah auf den Jungen nieder. »Ist er krank? Stimmt etwas nicht mit ihm?«
»Ich weiß nicht recht.« Ni’lahn war den Tränen nahe. »Rodricko hat heute für seinen jungen Baum das Knospenlied gesungen und damit einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Vereinigung mit seinem Gefährten getan.« Die Stimme versagte ihr. »Aber d dann i ist etwas p passiert.«
Merik trat näher und legte ihr den Arm um die Schultern.
Sie zitterte, und ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Der Baum hat ausgetrieben. Er hat Rodricko angenommen, aber … aber die Blüten, die frischen Knospen, sie sind schwarz. So schwarz wie die Grim Gespenster.«
Merik wechselte über den Kopf der Nyphai hinweg einen Blick mit Meister Tyrus. Die beiden hatten mit den Grim von den Furchthöhen, den kranken Geistern von Ni’lahns Schwestern, keine guten Erfahrungen gemacht.
»Die Knospen sind abscheulich anzusehen.« Ni’lahn konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Das gibt sicher ein schreckliches Unglück.«
»Das können wir nicht wissen«, tröstete Merik, denn auch ihm war klar, dass der junge Baum, der aus der Vereinigung des Geistes ihres eigenen Baumes mit einem Grim hervorgegangen war, die letzte Hoffnung des Nyphai Volkes darstellte. Ob er am Ende durch den Kontakt mit den Grim vergiftet war?
Ni’lahns Überlegungen gingen genau in diese Richtung. Ängstlich sah
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