Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
sie zu Merik auf. »Heute Nacht öffnen sich die Blüten zum ersten Mal und setzen ihre ganz besondere Magik frei. Doch wenn die Knospen von den Grim gezeichnet sind, kann das die schlimmsten Folgen haben.« Sie hielt sich die Hand vor den Mund, zog den Jungen näher zu sich heran und umhüllte seinen Kopf so mit ihrem Mantel, dass er ihre nächsten Worte nicht hören konnte. »Ich darf um meiner Hoffnungen willen nicht ganz A’loatal in Gefahr bringen. Der Baum muss gefällt werden.«
Merik erschrak. Der Baum verkörperte in vieler Hinsicht die Hoffnungen ganz Alaseas. Man hatte den Schössling dahin gepflanzt, wo Jahrhunderte lang der Stolz der Insel gestanden hatte, der erste Koa’kona. Er war das Sinnbild eines neuen Anfangs, einer unbelasteten Zukunft.
Meister Tyrus, der über den beiden auf der untersten Stufe stand, verlieh einer noch drängenderen Sorge Ausdruck. »Aber was ist mit Rodricko? Was wird dann aus ihm?«
»Der Baum hat sein Lied angenommen.« Ni’lahn unterdrückte ein Schluchzen. »Die Verbindung wurde vollzogen. Wenn der Baum stirbt, stirbt auch er.«
Meriks Blick streifte das Kind, das sich fest an seine Mutter schmiegte. Er war dabei gewesen, als Ni’lahn den Jungen fand. Sie hatten gemeinsam gegen die Grim und die Schergen des Herrn der Dunklen Mächte gekämpft, um den Kleinen wohlbehalten auf die Insel zu bringen. Die Züge des Elv’en verhärteten sich. »In diesem Fall werde ich nicht zulassen, dass dem Baum ein Leid geschieht.«
Ni’lahn umklammerte seinen Arm. »Du müsstest mich doch besser verstehen als jeder andere. Es kann nur ein Zeichen der Fäule sein. Und besser stirbt Rodricko, als dass er von der Krankheit befallen wird, die den Baum vergiftet. Du hast mit angesehen, was aus meinen Schwestern geworden ist. Ich werde nicht dulden, dass mit meinem Sohn das Gleiche geschieht. Lieber setze ich selbst die Axt an.« Sie brach in wildes Schluchzen aus.
Sprachlos kniete Merik neben dem kleinen Jungen nieder. Rodricko hatte das Gesicht in den Falten des mütterlichen Mantels vergraben. Der Junge mochte das Geflüster nicht verstanden haben, aber er spürte, wie seine Mutter litt. Merik schaute zu Ni’lahn empor und sah die Verzweiflung in ihren Augen. Der Elv’e und die Nyphai waren sich auf der Reise in den Norden allmählich näher gekommen. Die gemeinsame Geschichte ihrer Völker und die eigenen Entbehrungen und Verluste bildeten ein festes Band zwischen ihnen. Für Merik waren Ni’lahn und ihr Junge fast wie eine neue Familie. Er hatte seine Mutter und seinen Bruder verloren und war nicht bereit, noch mehr aufzugeben.
Hinter ihnen flüsterte Tyrus: »Vielleicht sollten wir die Entscheidung verschieben, bis sich die Gemüter beruhigt haben und wir klarer sehen.«
Merik stand auf. Sein Mantel blähte sich. »Nein. Da gibt es nichts zu entscheiden. Wenn dadurch Rodrickos Leben bedroht ist, wird dem Baum nichts geschehen.« Er strich Ni’lahn sanft über die Wange. »Ich lasse nicht zu, dass du aus Angst vor einer von vielen möglichen Folgen überstürzt handelst. Mikela von den Dro bewahrte Elementarmagiker mit Gift davor, zu Bösewächtern zu werden. Aber damit zerstörte sie alle Stränge einer möglichen Zukunft, nur weil einer in die Verderbnis führen konnte. Ich will nicht, dass du in ihre Fußstapfen trittst.«
Meister Tyrus’ Stimme klang eine Spur rauer. »Merik hat Recht. Diesen Weg hätte Mikela niemandem empfohlen.«
Ni’lahn sah erst den Piratenprinzen und dann Merik an. »Was sollen wir also tun?«
Merik hob die andere Hand und legte sie dem Jungen auf den Kopf. »Wir lassen die Zukunft auf uns zukommen. Wir warten die Dunkelheit ab, dann werden wir ja sehen, was das Schicksal für den Jungen und seinen Baum bereithält.«
Einen halben Kontinent entfernt saß Greschym betrunken im Wirtshaus zum Mondsee und hämmerte im Takt zu den Schlägen des Trommlers mit der Faust auf den Tisch. »Alle fünf! Alle fünf!« grölte er mit den anderen Gästen.
Der schwitzende Gaukler nahm einen fünften Kienspan und warf ihn zu den anderen hoch in die Luft. Dann rannte er aus Leibeskräften auf der Bretterbühne im Schankraum des Wirtshauses hin und her, um zu verhindern, dass eine der brennenden Fackeln auf den mit Stroh bestreuten Boden fiel. Zwei Helfer standen für den Notfall mit Wassereimern bereit.
Greschym sah dem Schauspiel mit trüben Augen zu. Am Mondsee feierte man den Ersten Mond mit einem großen Aufgebot an Spielleuten, Tierdressuren und
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