Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
gleichzeitig überall. Was von ihr Bewusstsein war, breitete sich an einem silbrigen Energienetz entlang nach allen Seiten aus. Solange sie in ihrem Körper gefangen saß, war sie zu schwach gewesen und hatte die Unendlichkeit jenseits von sich selbst kaum gestreift. Doch das war vorbei. Wie zuvor in der Leere dehnte sie sich von diesem einzelnen Faden aus weiter aus und drang vor in das Netz des Lebens. Sie wuchs hinein in seine zahllosen Formen und Gestalten, seine Sinne und Muster. Stimmen ertönten in ihrem Kopf. Leben endete und entstand von neuem, das Netz entwickelte sich weiter. Sie durchraste seine Vielfalt und schwelgte in seiner Einfachheit. Wie mit den Augen einer einzelnen Ameise sah sie hinab auf seine unendliche Weite und richtete zugleich den Blick nach oben.
Sie wusste, was sie dort sah: Es war das Gegenstück zur Leere und doch von gleicher Art. Ein gewaltiger, noch unberührter Vorrat. Und sie wusste, wie sie zu entscheiden hatte. Sie hatte ihren Weg gefunden.
Sie löste sich aus dem Netz, aus dem Raum, aus der Welt. Dabei zog sie ihre eigene Energie wie eine Schnur hinter sich her, wie ein leuchtendes Kielswasser führte ihr Geistfeuer zurück zu diesem lebenden Gespinst.
Irgendwo in der Nähe des Mondes verharrte sie. Immer noch strömte Energie in sie ein. Sie konnte ihr nicht entkommen, sondern sie nur freisetzen. Sie selbst war zu einem unermesslich reichen Magik Quell geworden. Nun musste sie wählen. Sie konnte diese Magik für sich behalten und damit in die Unendlichkeit der Leere aufsteigen, oder sie konnte sie ableiten in das leere Herz der Welt, konnte die Energie einströmen lassen in die Materie, um so eine neue Welt zu schaffen.
Plötzlich sah sie eine dritte Möglichkeit. Ein Weg, den niemand finden kann außer dir.
Sie nahm die frei gewordene Energie der beiden Geister in sich auf und band sie ein in den Himmel über der Welt, indes sie über einen dünnen Faden weiterhin die Verbindung zu dem Lebensnetz unter sich hielt.
Sie handelte und reagierte instinktiv. Doch sie verstand, was sie tat.
Die so gebundene Energie sollte ihre Magik gleichmäßig an das Netz abgeben. Dann wären Elementargeister und gewöhnliche Menschen nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Es gäbe keine Magiker, keine Hexen, keine Herren der Dunklen Mächte mehr. Nicht länger stünden die Wenigen über den Vielen, stattdessen würde jedem Lebewesen seine eigene Magik, seine eigene, einmalige Begabung zuteil. Möglicherweise wären die Kräfte des Einzelnen nicht mehr so stark wie bisher, nachdem die Energie auf alle verteilt, im Netz des Lebens aufgelöst war, aber vielleicht war es auch an der Zeit, dass Ly’chuks Traum sich erfüllte und die Herrschaft der Magik zu Ende ging. Vielleicht war es Zeit für die Welt, ihre Zukunft und ihr Schicksal selbst zu gestalten.
Elena beendete ihr Werk und glitt auf den silbernen Pfad zurück. Sie hatte sich völlig verausgabt und war so erschöpft, dass sie haltlos in die Tiefe stürzte. Befreit von der tobenden Magik, verdichtete sich ihr Wesen, sie konzentrierte sich wieder auf sich selbst. Als sie den Magik Quell betrachtete, der über ihr am Himmel erstrahlte und einen gleichmäßigen Energiestrom in das Netz des Lebens leitete, staunte sie über ihr Werk. Doch das Wissen um ihre Schöpfung verblasste bereits. Ihr Bewusstsein war nicht mehr groß genug, um die Erkenntnisse zu fassen, die der Geburt dieses neuen Sterns zugrunde lagen.
Sie sank zurück in die Welt, zurück in das Netz, zurück in die nach oben offene Höhle, ohne den funkelnden Stern aus den Augen zu lassen. Solange er leuchtete, solange sein Energievorrat nicht erschöpft war, würde die Magik des Landes in jeder Hinsicht ausgeglichen, und alle Wesen wären einander gleich. Ihre Begabungen wären bescheidener das Talent zum Bildhauer oder zum Bäcker vielleicht oder die Fähigkeit, in den Herzen anderer zu lesen , aber jedes Lebewesen hätte seine eigene, einmalige Gabe, und es stünde ihm frei, sie zu erkennen und zu fördern oder sie unbeachtet zu lassen.
Von dieser Nacht an wären alle gleich.
Elena sah sich um. Nur eine Ausnahme sollte es geben. Ohne bewusst zu durchschauen, was mit ihr geschah, löste sie sich aus dem Energiestrom und richtete ihr Bewusstsein wieder ausschließlich auf sich selbst. So kehrte sie aus dem Nichts in die Welt zurück, keine Göttin und auch keine Hexe mehr, sondern einfach eine Frau.
Die Welt brach über sie herein: Wärme auf der Haut, Gerüche nach
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