Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
Westlichen Marken hinaus in das Land hinter der untergehenden Sonne. Im Laufe meines Wanderlebens erwies sich, dass ich durch Elenas letztes Geschenk an mich tatsächlich unsterblich geworden war. Ich alterte nicht. Ich durchmaß ungezählte Lebensspannen, aber nur die erste war von Bedeutung für mich. Ich hätte genügend Lebensenergie gehabt, um Kesla wieder erstehen zu lassen, aber mir fehlte der Wille dazu. Ich versuchte es nicht einmal. Ich war ihrer Liebe nicht würdig. Wo sie jetzt schlief im Sand ihrer Wüstenheimat oder in den sanften Armen der Mutter , war sie besser aufgehoben.
Mit der Zeit blieb mir freilich auch in dieser Hinsicht keine Wahl mehr. Meine Träume verloren wie alle starke Magik in der Welt ihre Kraft. Es dauerte einige Generationen, doch allmählich wurde die Welt einfacher und damit wohl auch farbloser. Unter dem Schein des Hexensterns zogen sich die Og’er in ihre Berge zurück, die Mer’ai in ihre Meere und die Elv’en verstreuten sich in alle Winde und wurden niemals wieder gesehen.
Der Hexenstern wird eines Tages verglühen, und vielleicht kehrt dann die Magik mit ihren Höhen und Tiefen zurück, doch bis dahin leben wir im Zeitalter der Menschheit mit all seinem Glanz und all seinem Elend. Goldene und dunkle Zeiten sind an mir vorübergezogen, aber ich hörte nicht auf, über die Straßen zu wandern und nach Antworten zu suchen, die ich doch von Anfang an in mir trug.
Wenn ich heute zurückschaue auf die Worte, mit denen ich diese lange Geschichte begann, dann spüre ich den Groll, der mein Herz erfüllte. Dabei hatte mich Elena nicht verflucht, sie hatte mir nur Gelegenheit gegeben, den dunklen Pfad weiter zu gehen, auf den ich mich aus freien Stücken begeben hatte. Der Weg war zu lang für eine einzige Lebensspanne. Ich brauchte viele Leben, um über Schuldgefühle, Verbitterung und sogar Wahnsinn hinauszuwachsen.
So kam ich schließlich zu den Keil Inseln vor der Westküste. Damit war ich Alasea so nahe, wie ich es ertragen konnte. Mir fehlte der Mut, noch einmal seine Landschaften zu durchwandern, aber ich brachte es auch nicht über mich, in der Ferne zu bleiben. So verbrachte ich denn die letzten Jahrhunderte damit, als Namenloser von Insel zu Insel zu ziehen, damit niemand bemerkte, dass ich nicht alterte.
Jetzt betrachte ich meine runzligen Hände, die den Federkiel führen, höre das leise Kratzen auf dem Pergament und sehe die grauen Haare wie Winterschnee auf die feuchte Tinte fallen. Elenas letztes Versprechen hat sich erfüllt. Als ich in jenem letzten Augenblick des Einsseins mit ihr das Silbernetz berührte, ergossen sich auch die Geschichten der anderen in meinen Geist. Doch ich verdrängte sie, verstaute sie sozusagen in Kisten und Schränken. In jener finsteren Zeit wollte ich mich damit nicht auseinander setzen.
Erst nach so vielen Jahrhunderten habe ich es gewagt, die geheimen Verstecke in meinem Herzen zu öffnen und mich mit den zahllosen Erinnerungen zu beschäftigen. Jetzt verstehe ich auch, warum Elena mir diese Aufgabe stellte, denn auf diesen Seiten, in diesen Geschichten habe ich mich selbst gefunden. Ich sah meinen Weg nicht nur durch die Linse der Verbitterung in meinem eigenen Herzen, sondern durch viele andere Augen. Und am Ende meines Berichts sehe ich ihn so klar, dass ich etwas vermag, was mir all die Jahrhunderte nicht gelingen wollte.
Ich kann mir verzeihen.
Die Geschichten zeigen mir, dass ich nicht besser, aber auch nicht schlechter war als meine Gefährten. Wir alle hatten unsere Geheimnisse, wir alle haben schändlich und ehrenvoll gehandelt, waren feige und tapfer auch Elena selbst.
Erst diese Erkenntnis hat den Bann der Unsterblichkeit gebrochen. Elena hatte die Magik an die Schuldgefühle in meinem Herzen gebunden. Sobald die Schuld vergeben war, löste sich auch der Bann.
Nun kann auch ich zur Mutter eingehen wie alle guten Lebewesen.
Schon fühle ich mich von einer Gegenwart umgeben. Es ist nicht die Mutter, sondern jemand, der mir näher und vertrauter ist. Ich sehe keinen Geist, keinen Wirbel aus tanzendem Mondstein, aber ich weiß, dass sie vor mir steht, und glaube fast, ihren Atem auf meiner Wange zu spüren.
»Elena«, flüsterte ich in den leeren Raum.
Ich höre keine Antwort, aber ich spüre, wie mir warm ums Herz wird. Im Vorwort hatte ich aufgezählt, wie ich die Hexe dargestellt hatte: als Possenreißerin, Prophetin, Gauklerin, Erlöserin, Heldin und Schurkin. Doch in all den Jahrhunderten habe ich sie nie so
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