Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
einen Auftrag zu erfüllen.
Er wandte sich wieder dem Zahn zu. In diesem Augenblick ging das seltsame Gebell in ein schrilles Heulen über, das von allen Seiten widerhallte. Die Dschungelgeräusche verstummten. Bei aller Deutlichkeit wirkte der Ruf auch jetzt noch so, als käme er aus weiter Ferne. Sonderbar. Jaston rieb sich nervös die Narben, die seine linke Gesichtshälfte entstellten.
»Ein großer Hund hat sich losgerissen«, plapperte eine Stimme neben ihm.
Jaston sah auf den kleinen Jungen hinab und strich ihm über den Kopf. »Das ist nur ein Echo. Der Zahn treibt seine Spielchen mit uns.«
»Hat sich der Hund verlaufen?«
Jaston lächelte. »Er kommt schon zurecht.«
Der Kleine gab sich offenbar mit der Antwort zufrieden und steckte den Daumen in den Mund. Das schwarzhaarige Kerlchen in dem groben, selbstgewebten Kittel schien etwa fünf Winter alt zu sein, doch tatsächlich war es erst vor vierzehn Tagen aus Moos, Flechten und Sumpfkraut entstanden von der Sumpfhexe Cassa Dar zum Leben erweckt.
Jaston rückte sein Bündel zurecht und setzte seinen Weg fort. Das Geheul verfolgte ihn, hängte sich an ihn, schnappte förmlich nach seinen Fersen. Wieder blieb er stehen. Die Sache war ihm nicht geheuer.
Er wandte sich an den Jungen. »Cassa Dar, kannst du mich hören?«
Der Junge runzelte die Stirn und kratzte sich im Ohr, als wäre ihm ein Käfer hineingekrochen.
»Cassa …?«
Als der Kleine endlich antwortete, klang seine Stimme völlig verändert. »Ich höre dich, mein Liebster.«
Cassa Dars Worte wärmten Jaston das Herz. Wenn er die Augen schloss, spürte er sie neben sich. Selbst ihr Duft schien den schwülen Wald zu durchdringen: Mondblumen, süß und berauschend. Cassa Dar, eine Elementarhexe mit ungeheuren Kräften, war wie diese Blume, süß und todbringend zugleich.
»Was gibt es?« fragte sie nun durch den Mund des Jungen. Die Zwergin war einst von der gefürchteten Meuchler Gilde aus ihrer Heimat auf die Burg Drakken geschickt und dort zur Giftmörderin ausgebildet worden. Doch dann hatte der Herr der Dunklen Mächte die Burg angegriffen, und seither war Cassa Dar untrennbar mit dem Land ringsum verbunden. Sie war besonders langlebig und besaß in hohem Maße die Gabe der Giftmagik. Da sie an ihr Land gefesselt war, konnte sie Jaston auf seiner Reise nicht begleiten, sondern musste ihn allein ziehen lassen. Sie konnte ihm nur ein Stück von ihrer Magik mitgeben das Sumpfkind.
»Hörst du dieses Heulen?« fragte Jaston.
Der Junge legte den Kopf schief und lauschte; dann hob er einen Arm, hielt die Handfläche nach außen und drehte sich einmal langsam um sich selbst. »Ein Baumwolf«, sagte Cassa Dar endlich.
»Hier?« fragte Jaston überrascht. Wölfe waren in diesem Landstrich nicht heimisch.
»Nein.« Der Junge hielt an und schaute den Hang hinauf. »Du hast gut daran getan, nach mir zu rufen.«
»Das verstehe ich nicht.«
Der Junge sah ihn an, und hinter seinen Augen spürte Jaston Cassa Dars Blick. »Das Geheul schallt vom Zahn des Nordens herunter.«
»Das ist tausend Meilen weit weg.«
Der Junge nickte. »Aber du erkennst die Stimme, nicht wahr?«
Jaston schüttelte den Kopf.
»Hör genau hin … nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Herzen.«
Jaston runzelte die Stirn, aber er gehorchte seiner geliebten Hexe. Er ließ die Lider herabsinken und atmete in tiefen Zügen. Das Geheul umfing ihn, er spürte es mit allen Sinnen.
»Er sucht dich …«
Jetzt ging Jaston ein Licht auf. Die Stimme drang ihm bis ins Mark. »Ferndal«, hauchte er. »Der Gestaltwandler …« Jaston öffnete die Augen. Er war vollkommen sicher. Er war zusammen mit dem Wolf durch die Sümpfe gezogen und hatte ihm sogar einmal das Leben gerettet, als Ferndal von einem Ungeheuer mit Flügeln und Tentakeln angegriffen wurde.
»Damals wurde eine Beziehung geknüpft, die nun eine Verbindung zwischen euch ermöglicht. Und die Magik der Zwillingsgipfel verstärkt das Band.«
»Die Zähne«, murmelte er.
Cassa Dar hatte ihm erklärt, dass die beiden Berge Quellen der Elementarenergie des Landes waren. Ein Energiestrom ging vom Südzahn aus und nährte die Hexe und ihren Sumpf. Vor einem Mond hatte sie gespürt, wie dieser Strom mit einem Mal schwächer wurde und wie daraufhin ihre Kräfte noch stärker dahinschwanden als durch die zehrende Krankheit, unter der auch alle anderen Elementargeister litten. Die neue Schwächung war drastischer und schneller. Und im Gegensatz zu den anderen
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