Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
»Fen’chua ist tatsächlich gerettet. Du hast seine Seele befreit. Als Vater spürt man das.«
Tol chuk neigte den Kopf.
»Ich kann dir nicht verzeihen, dass du mir meinen Sohn genommen und Unglück über das Herdfeuer meiner Familie gebracht hast, aber du hast uns ein wenig Frieden geschenkt, und dafür danke ich dir.«
Die Worte fielen ihm schwer. Tol chuk hörte es an seiner Stimme. Der nächste Satz war nicht leichter.
»Willkommen zu Hause, Tol chuk, Sohn des Len’chuk.« Mit einem unverständlichen Brummen wandte Hun’chua sich ab und verschwand auf allen vieren im Halbdunkel der Höhle.
Tol chuk sah ihm nach. Endlich hatte er das Gefühl, wahrhaft zu seinem Stamm zurückgekehrt zu sein. Magnam trat zu ihm. »Was hatte das zu bedeuten?«
Tol chuk schüttelte den Kopf. »Die Gespenster der Vergangenheit müssen Ruhe finden«, murmelte er, dann half er den anderen, sich einzurichten und die kalte, leere Wohnstätte mit neuem Leben zu erfüllen. Sie waren nicht sein eigen Fleisch und Blut, aber doch so etwas wie eine neue Familie. Vielleicht konnten sie den Fluch von der alten Sippe nehmen.
Von allen Seiten tauchten nun die Og’er aus ihren Wohngehegen auf und kehrten an die Kochfeuer zurück, um die Flammen zu schüren und in den Töpfen zu rühren. Zwei Weibchen kamen herübergeschlichen und warfen ihnen Holz über die Einfriedung. Durch die Pforte wagten sie sich nicht.
Als Tol chuk die Äste auflas, spürte er ein warnendes Prickeln im Nacken, und auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Gleich darauf erscholl ein tiefer Ton, der durch die ganze Höhle zog und von der gewölbten Decke widerhallte. Er spürte ihn bis ins Mark. Sogar die Herdfeuer duckten sich wie unter einem eisigen Wind.
Ringsum hielten die Og’er in ihrer Arbeit inne.
Mama Freda stand neben Tol chuk. Tikal hatte einen Haufen Knochen untersucht, nun kam er herübergelaufen und sprang ihr auf die Schulter. »Was ist das?« fragte die Heilerin. Der Ton erschütterte auch weiterhin die Höhle.
»Man ruft uns«, flüsterte Tol chuk.
Selbst der Fels unter seinen Füßen schien mitzuschwingen, als hätte jemand mit einem gewaltigen Kristallhammer gegen das Granitherz des Berges geschlagen.
Mama Freda beruhigte den verängstigten Tamrink. »Ein Ruf? Von wem? Wozu?«
»Die Triade fordert alle Og’er auf, sich zu versammeln.«
Jaston und der Elv’en Kapitän traten näher. »Wozu das denn?« Er schaute durch die Höhle. »Die meisten von euch sind doch schon hier.«
»Nein«, sagte Tol chuk. »Du hast mich falsch verstanden. Der Aufruf gilt für alle Og’er. Für jeden Stamm, jeden Einzelnen, ob jung oder alt, Männchen oder Weibchen.«
»Kommt so etwas oft vor?« fragte Mama Freda.
Tol chuk schüttelte den Kopf. »Ich habe es erst einmal erlebt, und da war ich noch ein Kind. Es war während des letzten Og’er Krieges, als sich die Clans untereinander bekämpften. Damals berief die Triade die Versammlung ein, um Frieden zu stiften.«
»Und heute?«
»Ich weiß es nicht.« Er dachte an den Kampf mit den Og’ern vom Stamm der Ku’ukla, bei denen deren Anführer ums Leben gekommen war. Ob die Triade davon schon erfahren hatte?
Allmählich verlangsamten sich die Schwingungen, und schließlich verklang der Ton ganz. Niemand in der Höhle verließ seine Feuerstelle. Hier und dort steckten Stammesmitglieder die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander.
»Seht nur«, sagte Magnam. »Da kommt jemand.« Er deutete in den hintersten Winkel der Haupthöhle.
Aus einem langen, schmalen Spalt in der Felswand drang bläulich flackerndes Licht, das immer näher kam und dabei immer heller wurde.
Sie waren nicht die Einzigen, die es bemerkten. Das Gemurmel legte sich; sogar die ängstlichen Stimmen der Weibchen verstummten.
In dem blauen Schein bewegte sich etwas. Erst eine, dann eine zweite und schließlich eine dritte Gestalt kam aus dem Spalt gehumpelt: drei uralte Og’er, nackt, mit runzliger Haut und grünen Augen, die durch die Dunkelheit leuchteten.
»Die Triade«, hauchte Tol chuk.
Wie drei gespenstisch anmutende Gerippe schleppten sie sich über den Granitboden. Wo sie vorüberkamen, fielen die Og’er auf die Knie, senkten die Köpfe und wandten den Blick ab. Dies waren die geistigen Führer des ganzen Volkes, sie hielten die Verbindung zum Reich der Toten aufrecht. Nur sehr selten verließen sie ihre eigenen Höhlen und Gänge, doch nun glitten sie wortlos auf dem Hauptweg durch die Wohnstätten. Und sie hatten
Weitere Kostenlose Bücher