Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
Kraftströme wie Schmelzwasser nach Alasea hinab. Eine der silbrigen Adern hatte der Herr der Dunklen Mächte bei seinem Einmarsch in ihr Land zu durchtrennen versucht. Durch den dabei entstandenen Schaden war die ganze Region abgesackt, die Ebenen waren versumpft, und A loatal war zur Hälfte im Meer versunken.
Nun ging es freilich nicht um die Ader, die in Cassa Dars Gegend führte sondern um jene Kraftströme, die zwischen den Gipfeln verliefen. Sie fuhr mit dem Finger über die Karte und wiederholte dabei die Worte aus dem Buch. »Wo die nordwärts führenden Adern aus dem Zahn des Südens und die südwärts führenden Adern aus dem Zahn des Nordens aufeinander treffen, verschlingen sich die Kräfte aus den beiden Bergen zu einem schwer zu entwirrenden Knäuel.« Das Ergebnis der Berechnungen führte zu einem ganz bestimmten Punkt auf der Karte: Wintershorst. Sie fand auch die kleine Stadt in der Nähe: Winterberg die Heimat der Hexe.
Die Bande, die Cassa Dar an das Land fesselten, reichten tiefer als alles andere. Woher die Krankheit kam, die sie schwächte, wusste sie genau. Wenn sie die Karte berührte, spürte sie das Böse an dieser Stelle wie ein Geschwür.
»Wintershorst …«, flüsterte sie.
Schwerfällig stand sie auf. Die Hexe musste erfahren, dass etwas Ungeheuerliches im Anzug war. Cassa Dar stieg hinauf zu den Krähennestern in der Turmspitze, um eine Botenkrähe nach A’loatal zu schicken. Hoffentlich traf die Nachricht noch rechtzeitig ein.
Auf dem Weg nach oben wurde ihre Angst um Jaston immer stärker. Sie fasste sich mit der Hand an die Brust. »Gib gut auf dich Acht, mein Liebster.«
Jaston stand mit den anderen hinter Tol chuk. Der Og’er kniete immer noch vor den Leichnamen der drei Greise. Der große Herzstein lag zwischen den leblosen Körpern wie ein leuchtendes Ei in einem Nest des Grauens.
Dahinter standen die Og’er wie eine Wand. Ihr Sprecher war der Hüne, der die Gruppe um Tol chuk schon vorher angegriffen hatte. Jaston verstand die Worte nicht, er hörte nur das Knurren und Grollen der Og’er Sprache. Doch dass der Alte Tol chuk mit Vorwürfen überhäufte, war unverkennbar. Tol chuk kniete schuldbewusst vor den Leichen und ließ die Strafpredigt schweigend über sich ergehen.
Ferndal strich an Jastons Bein entlang. Der Sumpfmann spürte sein Zittern. Der riesige Baumwolf machte sich zum Kampf bereit. Hinter Ferndal stand Jerrick. Er hatte einen Arm um Mama Freda gelegt. Aus den Fingerspitzen der anderen Hand sprühten Funken. Magnam hielt schon den Griff seiner Axt umfasst. Alle waren entschlossen, sich und ihren Freund zu verteidigen.
Der aufgebrachte Og’er trat auf Tol chuk zu. Sein Zorn war so groß, dass er offenbar sogar beabsichtigte, über die Leichen hinwegzusteigen. Doch bevor er das Knäuel aus verschlungenen Gliedmaßen erreichte, flammte der Stein in der Mitte heller auf, als wollte er ihn warnen. Aus dem Lichtschein löste sich ein schwarzer Nebel.
Alle wichen zurück. Nur Tol chuk blieb, wo er war, und beobachtete das Schauspiel mit großen Augen.
Der seltsame Nebel zog sich in die Länge und bildete einen Wirbel, der sich in drei Stränge teilte. Die schwarzen Schwaden sanken zu Boden und verdichteten sich zu drei hageren, verkrümmten Og’er Gestalten. Sogar Jaston erkannte die Triade wieder. Es war, als wären ihre Schatten zum Leben erwacht.
Alle Og’er sanken in die Knie. Auch der Anführer ließ sich mit einem leisen Aufschrei der Überraschung zu Boden fallen.
Das schemenhafte Trio begann zu sprechen, wobei schwer zu erkennen war, von welchem der Schatten die Worte kamen. Jaston fand es besonders erstaunlich, dass er den Sinn verstand, obwohl er die Og’er Sprache nicht beherrschte.
»Endlich sind wir frei«, sangen die Schatten. Die Stimmen klangen wie aus weiter Ferne. »Jahrhundertelang haben wir ausgeharrt und gewartet, bis das Herz gereinigt und der Weg ins Seelenreich offen war. Nun können wir diese altersschwachen Körper verlassen. Es ist an der Zeit, den Clans einen neuen Führer zu geben, der über sie wacht. Es ist an der Zeit, dass aus den Dreien der Eine wird.«
Ein schemenhafter Arm deutete auf Tol chuk. »Erhebe dich, und nimm das Herz an dich. Die Last ruht von nun an auf deinen Schultern.«
Tol chuk riss die Augen weit auf und sagte etwas in der Sprache der Og’er. Es klang wie ein Einwand.
»Halbblut oder nicht, du bist ein Og’er«, antworteten die Geister traurig. »Nimm das Herz an dich, und fürchte dich
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