Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
Og’er an der Pforte, und du wirst frei sein.« Die Stimme verklang. Bevor das Dunkelfeuer vollends erlosch, hörte der Gestaltwandler noch ein letztes Flüstern: »Aber enttäusche uns nicht, sonst wirst du heulen und wehklagen in alle Ewigkeit.«
Helligkeit und Wärme kehrten zurück, die Luft war wieder klar und frisch. Mogwied erwachte wie aus einem Albtraum. Aber er wusste, dass er nicht geträumt hatte. Langsam hüllte er die Schwarzsteinschale wieder in das Tuch. Er wünschte, er hätte das verfluchte Ding nie berührt.
Dennoch glomm tief in seinem Inneren ein Fünkchen Hoffnung. Endlich frei zu sein …
Er verstaute die Schale in seinem Bündel und verknotete die Lederriemen auf seine ganz besondere Art. Als er fertig war, erhob er sich. Die Beine waren ihm eingeschlafen, und er war vor Angst wie benommen. Unsicher stolperte er um den Felsblock herum und schaute nach oben. Das kleine Lagerfeuer in der Höhle leuchtete durch die Dunkelheit, und vor dem hellen Fleck zeichnete sich ein schwarzer Schatten ab.
Tol chuk.
Mogwied kletterte die Böschung hinauf und ging auf das Licht zu. Die bernsteingelben Augen des Og’ers richteten sich auf ihn.
Mogwied konnte ihren Blick nicht ertragen.
Tol chuk verzog erstaunt das Gesicht. »Wo hast du denn die Schüsseln gelassen?«
Mogwied glaubte, der Og’er meine die Schwarzsteinschale, und erschrak. Doch dann begriff er, dass es nur um das schmutzige Essgeschirr ging. Er zeigte hangabwärts. »Sie liegen noch am Bach. Ich werde sie später waschen. Jetzt ist es mir zu kalt dafür.«
Mogwied wollte sich vorbeidrängen, um ans warme Feuer zu kommen, aber Tol chuk hielt ihn auf.
»Stimmt etwas nicht, Mogwied?«
Der Si’lura hob den Kopf, sah den besorgten Blick des Og’ers und wurde glühend rot. »Nein«, murmelte er. »Alles in Ordnung.«
Tol chuk klopfte ihm auf die Schulter. In der Ferne grollte der Donner. »Eine wüste Nacht. Bleib hier am Feuer.«
Mogwied ging weiter, um Tol’chuks Blick zu entkommen. Am Feuer angelangt, schaute er zum Höhleneingang zurück. Tol chuk kauerte dort und starrte unverwandt in die Nacht hinaus. Er hielt Wache, um seine Gefährten vor den Gefahren zu schützen, die draußen lauerten, und ahnte nicht, dass die Gefahr so nahe war.
Wieder hörte Mogwied im Geiste die eisige Stimme: Töte den Og’er an der Pforte, und du wirst frei sein. Er wandte Tol chuk den Rücken zu und starrte ins Feuer.
Er hatte keine andere Wahl.
7
Es war Morgen. Tol chuk marschierte durch den Nieselregen. Der Himmel war einheitlich grau und trübe. Triefend nass und trotz der frühen Stunde bereits erschöpft, schlurften seine Gefährten hinter ihm her. Das schlechte Wetter nahm den Beinen die Kraft und dem Herzen den Mut. Mühsam schleppten sie sich das letzte Stück den langen Höhenzug hinauf.
Oben angekommen, blieb der Og’er stehen. Ferndal, der die Nachhut gebildet hatte, kam angetrottet und stellte sich neben ihn. Vor ihnen lag das Tal kümmerliche Bäume, magere Büsche, Dornengestrüpp, dazwischen einige Felsen. Da und dort ein Stück Wiese, von ausgetretenen Pfaden durchzogen. Tol chuk hatte ganz vergessen, wie grün es im Frühling hier war. Überall prangten Wildblumen in bunten Farben: gelbes Geißblatt, blaue Iris, roter Klatschmohn. Erinnerungen stiegen in ihm auf.
An einem Ende schloss eine schroffe Felswand das Tal ab, ein Ausläufer des Großen Zahns. An ihrem Fuß gähnte ein schwarzes Loch.
»Zu Hause«, seufzte er leise.
Ferndal knurrte.
Auch Tol chuk hatte die Bewegung entdeckt. Was wie Granitblöcke ausgesehen hatte, bekam auf einmal Arme und Beine und trottete davon. Mit lautem Blöken wurde Alarm geschlagen. Trotz des Regens stieg Tol chuk der Moschusgeruch der verängstigten Weibchen in die Nase. Sie waren kleiner als die Männchen. Wahrscheinlich waren sie draußen gewesen, um nach Knollen und Wurzeln zu graben. Nun flüchteten sie zu den Höhlen und scheuchten dabei eine Herde Milchziegen auf.
Tol chuk setzte sich an die Spitze und winkte den anderen, ihm zu folgen. Unweit des Tunneleingangs bewegte sich etwas. Tol chuk blieb stehen. »Bleibt alle dicht bei mir. Und tut nichts, was man als Drohung auffassen könnte.«
Eine Horde männlicher Og’er Jäger und Krieger stürmte aus der Höhle und rannte auf die Eindringlinge zu. Bei jedem Schritt stützten sie sich auf ihre Fingerknöchel. Die Erde bebte unter ihren Tritten. Die meisten waren mit Keulen oder Faustkeilen bewaffnet.
»Lasst mich reden«,
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