Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
Regenschauer ging nieder und trübte den Blick auf das Tal.
Hun’chua zog den Arm zurück; der Jähzorn in seinen Augen war erloschen. Brummend wandte er sich ab. Er hatte Tol chuk nicht etwa verziehen, aber er verzichtete darauf, ihn zu töten. Die anderen Og’er folgten seinem Beispiel und zogen sich zurück.
»Können wir mit ihnen gehen?« fragte Jaston. Er war kreidebleich im Gesicht.
Tol chuk nickte. »Sie nehmen uns auf. Aber seid weiter auf der Hut, und bleibt an meiner Seite.«
»Wir kleben an dir wie die Blutegel«, beteuerte ihm Magnam. Er und die anderen beäugten die riesigen Og’er mit Misstrauen, doch sie konnten das Tal unbehelligt durchqueren.
Als sie den Höhleneingang erreichten, begann Ferndal zu schnüffeln. Auch Tol chuk war der Geruch nicht entgangen: Kochfeuer, Frühstücksbrei und die überwältigend starke Ausdünstung der Og’er. Er war endgültig zu Hause angekommen. Die Düfte beschworen Erinnerungen herauf. Hier hatte er mit seinem Vater und den wenigen Freunden, die bereit waren, mit ihm, der Missgeburt, am abendlichen Feuer zu spielen, glückliche Stunden erlebt. Aber es hatte auch unerfreuliche Szenen gegeben, wenn ihm als Halbblut wieder einmal geballte Abneigung entgegengeschlagen und er höhnisch zurückgewiesen worden war. Am schlimmsten war der Tag gewesen, an dem man den blutigen Leichnam seines Vaters an ihm vorbeigetragen hatte. Nie zuvor hatte er sich so allein gefühlt.
Je näher er dem Loch im Fels kam, desto langsamer wurde er. Er sah die Herdfeuer durch das Dunkel leuchten, doch nach der langen Reise hatte er mit einem Mal Angst, die letzten Schritte zu tun.
Jemand fasste ihn am Ellbogen, und Magnam flüsterte, ohne ihn anzusehen, wie schon einmal: »Du bist nicht allein.«
Tol chuk sah sich um und begriff, dass der Zwerg Recht hatte. Er hatte auf seinen Reisen durch Alasea, in einer Welt, die so viel größer war als seine alte Höhle, eine neue Familie gefunden. Der Anblick seiner Gefährten gab ihm den Mut und die Kraft, sein Exil zu beenden.
Er durchschritt den Granitbogen.
Dahinter blieb er kurz stehen, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. In einer riesigen Höhle brannten, eingefasst von Steinmäuerchen, die mit geschnitzten Knochen geschmückt waren, die Kochfeuer der einzelnen Familien. Am anderen Ende ging es durch Korridore und kleinere Höhlen zu den verschiedenen Wohnstätten.
Fast alle Feuerstellen waren verwaist. Tol chuk war überzeugt, dass sich die Jungen und die Weibchen vor den Fremden in die Familiengehege geflüchtet hatten. Nur ein paar alte Jäger, Greise mit krummem Rücken, bewachten, mit angespitzten Ästen bewaffnet, die Höhle und sahen den Besuchern mit tiefem Misstrauen entgegen.
Unter Hun’chuas Führung drangen sie weiter vor. Tol chuk erkannte die Wohnstätte seiner eigenen Familie wieder sie war verlassen, dunkel und kalt. Die Verwandtschaftsgefühle, die eben noch aufgeflammt waren, erloschen schlagartig, als er über dem niedrigen, zu beiden Seiten von Felsblöcken begrenzten Eingang zwei überkreuzte Geweihstangen entdeckte, an denen kleine Rattenschädel hingen. Er wusste, was das bedeutete: Diese Höhle ist verflucht.
Auch die Nachbarhöhlen zu beiden Seiten waren unbewohnt. Mit einem Fluch wollte niemand in Berührung kommen.
Tol chuk konnte das in gewisser Weise sogar verstehen. Seine Familie hatte den Eidbrecher zum Stammvater. Wie sollte aus derart verseuchtem Blut denn etwas anderes als Unheil erwachsen?
Hun’chua zeigte aus sicherer Entfernung auf das umfriedete Gehege. »Hier könnt ihr wohnen.«
Tol chuk nickte, trat vor und zog die Geweihstangen auseinander. Die alten Rattenschädel klapperten. Aus dem Augenwinkel sah er die nächststehenden Og’er zurückweichen. Er kümmerte sich nicht darum, sondern bedeutete seinen Gefährten, durch die hüfthohe Pforte zu treten. »Man hat uns diese Wohnstätte zugewiesen«, erklärte er ihnen in der allgemeinen Sprache. »Hier können wir lagern.«
»Wir bringen euch Holz für ein Feuer«, grollte Hun’chua. Die Og’er zerstreuten sich allmählich. Als sie fort waren, trat der Alte an die Steinmauer heran.
Tol chuk rechnete damit, von Fen’chuas Vater angepöbelt oder gar zum Zweikampf herausgefordert zu werden. Doch Hun’chua streckte den Arm aus und legte die Krallenhand auf die oberste Steinlage. Tol chuk machte große Augen. Eine verfluchte Wohnstätte zu berühren erforderte viel Mut.
Hun’chua flüsterte mit rauer Stimme:
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