Alaska
rechnen. Nicht viele dieser importierten Arbeitskräfte blieben in Alaska, als die beiden Goldgruben - das Ölfeld und die Pipeline - versiegten, aber diejenigen, die sich hier niederließen, trugen enorm zur Kraft und Vitalität Alaskas bei. Die meisten liebten das Leben im Freien, die Natur und nahmen als moderne Pioniere des 20. Jahrhunderts die Herausforderung an. Ihr Zuzug war eine willkommene Bereicherung Alaskas.
Arbeiter auf Ölbohrinseln, Baggerführer, Rohrschweißer, pfiffige, gerissene Rechtsanwälte - Männer diesen Schlages setzten die Tradition der Einwanderer fort, die einst des Goldes wegen gekommen waren, der Wagemutigen, die die ersten Siedlungen gebaut, und der Seeleute, die unter Mike Healy auf der »Bear« gedient hatten, und wieder einmal entstand der Eindruck, Alaska sei ein Land nur für Männer. Aber es gab auch Frauen, die in dieser Wildnis ihr Glück versuchen wollten, wie schon früher: Krankenschwestern, verheiratete Frauen, leichte Mädchen, Flüchtlinge wie einst Missy Peckham - und ein paar Mutige, die nur einfach gekommen waren, um zu sehen, wie es sich in Alaska leben ließ.
Besonders eine Frau erlag in diesen Jahren den Verlockungen Alaskas, und ihre Ankunft im hohen Norden brachte so einiges in Bewegung.
»Noch nie ist ein Mädchen durch ein Buch verführt worden.« Mit diesen markanten Worten hat ein ehemaliger Bürgermeister von New York einmal seinen Widerstand gegen jede Art von Zensur ausgedrückt, doch 1983 wurde diese kühne Behauptung widerlegt, als nämlich das Titelblatt einer Zeitschrift einer jungen Frau aus Grand Junction, Colorado, völlig den Kopf verdrehte. Kendra Scott, fünfundzwanzig Jahre alt, versuchte gerade in ihrer Erdkundestunde den Kindern etwas über das Leben der Eskimos im hohen Norden beizubringen, als Miss Deller, die Leiterin der Schulbibliothek, das Klassenzimmer betrat und Kendra zwei vorbestellte Bücher überreichte. »Ich habe sie auf Ihren Namen ausgeliehen. Sie können sie bis April behalten.«
Kendra dankte ihr, denn es war nicht leicht, an geeignetes Unterrichtsmaterial zu kommen, und Miss Deller fügte noch hinzu: »Ich habe Ihnen auch noch die neueste Ausgabe des › National Geographic ‹ mitgebracht, vom Februar, aber den dürfen Sie nur zwei Wochen ausleihen, denn wir haben schon eine Vorbestellung.«
Kendra kannte den Inhalt der beiden Bücher bereits und sah sich daher zuerst die Zeitschrift an, und kaum hatte sie einen Blick auf das Titelbild geworfen, war es um sie geschehen. Das Cover zierte eines der hinreiss endsten Kinderfotos, die sie je gesehen hatte. Vor dem weißen Hintergrund eines Blizzards stapfte ein kleines Mädchen - es konnte auch ein Junge sein, denn man sah nur die Augen des Kindes - durch die Schneeverwehungen, von Kopf bis Fuß eingekleidet in die farbenprächtige Tracht ihres Volkes: große Fellschuhe, blauer, zweilagiger Overall, bunter, pelzbesetzter Kittel, ein heller, mit Perlen durchsetzter Ledergürtel, zwei Kapuzen, eine aus weißer Baumwolle, die größere aus dickem, gesteppten Kordsamt, die Kante aus dem Fell des Vielfraßes - und schließlich ein überlanges, dreimal um den Kopf geschlungenes, besticktes Tuch. Die Hände steckten in reichverzierten Handschuhen, und Kendra konnte nur vermuten, dass sich unter dem Kittel noch einmal drei bis vier Kleidungsstücke verbargen.
Was Kendra an dem Kind besonders rührte - und sie hatte sich eingeredet, dass es ein Mädchen sein musste -, war die Resolutheit, mit der es sich durch den Schnee vorankämpfte, den kleinen Körper gegen den Sturm lehnend, einen entschlossenen Blick in den Augen, nach vorne auf ein Ziel gerichtet, das trotz des Schneetreibens erreicht werden musste . Es war das herrliche Porträt einer Kindheit und zugleich eine Darstellung des menschlichen Überlebenswillens, und mit Herz und Seele wandte sich Kendra diesem Kind zu, das gegen die Elemente der Natur angetreten war.
Für einen langen Augenblick befand sie sich nicht mehr in dem warmen gemütlichen Klassenzimmer ihrer Grundschule in Grand Junction, sondern in den nördlichen Senken der Arktis, und ihre Schulklasse setzte sich auch nicht mehr aus weißen amerikanischen Mittelklassekindern und ein paar mexikanischen Jungen und Mädchen hier und da zusammen, sondern aus einer Gruppe Eskimos, die sechs Monate in Finsternis lebte und während der zweiten Hälfte des Jahres bei strahlendem Sonnenschein - vierundzwanzig Stunden am Tag. Kendra hatte sich von dem pelzumhüllten
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