Alaska
fünfzehntausend Jahren kannten die Eskimos an der Küste von Desolation dieses Vergnügen, und es ließ einen noch immer erschauern, Menschen wie die Vögel durch die Luft fliegen zu sehen.
Dieser Tag sollte ein besonderer sein, denn als die Siegerin aus dem Spiel hervorgegangen war, drängte Jonathan Borodin plötzlich Kendra Scott nach vorne an die Decke, und lauter Beifall ermunterte sie, es doch auch einmal zu wagen. Mit einer Bereitwilligkeit, die sie sonst an sich nicht kannte, ließ sie sich auf die Decke heben, aber war doch erleichtert, als Afanasi jetzt auftauchte und die Männer ermahnte: »Aber nicht zu hoch.«
In der Mitte der Decke stehend, spürte sie, wie der Boden unter ihr schwankte, und sie fragte sich, ob es ihr auch gelingen würde, das Gleichgewicht zu halten, aber sobald die Auf-und-nieder-Bewegung einsetzte, fühlte sie sich durch den Rhythmus der Decke auf wunderbare Weise wie in der Luft schwebend. Plötzlich schoss sie fast fünf Meter hoch, alle viere von sich gestreckt. Völlig aus dem Gleichgewicht geraten, fiel sie wie ein Klumpen zurück auf die Decke.
»Beim nächsten Mal schaffe ich es!« rief sie, als sie wieder zum Sitzen kam, und beim zweiten Versuch kam sie im Stehen auf. Jetzt bin ich ein Eskimo, sagte sie zu sich selbst, als man sie von der Decke hob. Jetzt gehöre ich dazu, bin ein Teil dieser See, dieser Jagd und dieser Tundra.
Ein paar Tage nach dem Fest, als ihre Gedanken noch immer um den Wal und das eindrucksvolle Jagdabenteuer kreisten, wurde Kendra Einblick in die hässliche Seite des Daseins gewährt, als einer ihrer Schüler mit aufregenden Neuigkeiten in den Unterricht gerannt kam: »Miss Scott! Kommen Sie schnell, ans Ufer! Eine neue Rasse ist gerade angeschwemmt worden!« Bevor sie ihn noch fragen konnte, was er damit meinte, führte er sie an den Küstenstreifen, wo das abscheuliche Gebilde lag und sie so starken Ekel empfand, dass sie sich beinahe übergeben hätte.
»Was ist denn das für ein scheußliches Etwas?«
»Die neue Rasse.«
»Was meinst du damit?«
»Ein Walross ohne Kopf.« Sie sah sich die Fleischmasse näher an und musste feststellen, dass der Junge recht hatte, es war der Kadaver eines Walrosses, aber es hatte keinen Kopf, und von dem aufgedunsenen Zustand her hätte man urteilen können, es hätte auch nie einen gehabt.
»Wie konnte das passieren?« fragte sie, und der Junge antwortete: »Sie dürften nach dem Gesetz kein Walross töten, weil Sie eine Weiße sind. Aber ich bin Eskimo und ernähre mich von dem Fleisch, ich darf sie töten.«
»Aber von diesem Fleisch hier hat sich keiner ernährt.«
»Von dem Fleisch der anderen Tiere der neuen Rasse ernährt sich auch keiner. Eskimos töten sie, wie seit jeher. Aber jetzt schneiden sie nur noch die Köpfe ab. Sie wollen nur das Elfenbein. Der Rest kann vermodern.«
»Wie schrecklich!« rief sie, und als ihr weitere Einzelheiten dieser neuen grausamen Art des Jagens enthüllt wurden, wurde ihr der verweste Kadaver am Ufer noch abstoßender. »Passieren solche Dinge häufiger?« fragte sie, und er gestand: »Immer wieder.« Er trat mit dem Fuß gegen das faulende Fleisch des riesigen Seetieres. »Sie töten sie nur wegen des Elfenbeins.«
Ende Mai, als die Chukchisee von der Küste aus noch bis weit draußen fest zugefroren, der Schnee von der Tundra aber bereits im Verschwinden begriffen war, bahnten sich schreckliche Neuigkeiten von der einsamen Hütte, in der Amys Eltern lebten, ihren Weg nach Norden. Ein Jäger brachte den schauerlichen Bericht nach Desolation: »Der alte Mann hat sich irgendwoher billigen Fusel besorgt und sich sinnlos betrunken. Dann hat er versucht, seine Frau umzubringen, weil sie ihm widersprochen hat. Er hat sie aber nicht getroffen und sich stattdessen selbst den Lauf in den Mund gesteckt und sich in den Kopf geschossen.«
Afanasi und Jeb Keeler stellten eine Rettungsmannschaft zusammen und fanden, als sie an die Hütte kamen, Amys Mutter nur leicht verwundet vor. Eine Verwandte aus dem Süden des Landes war gekommen und hatte sich um sie gekümmert, und jetzt bestanden beide Frauen darauf, dass Amy von der Schule abging und den Haushalt der Hütte übernahm. Als Kendra von diesem unzumutbaren Ansinnen erfuhr, explodierte sie: »Das Mädchen wird meinen Unterricht nicht verlassen! Ich verbiete es.« Afanasi erklärte ihr, wenn Amy zu Hause gebraucht werde, was offensichtlich der Fall war, dann müsse sie auch gehen, so verlangte es nun einmal die
Weitere Kostenlose Bücher