Alaska
einschlagen sollten, und nach fast zwei Stunden - sie waren langsam und vorsichtig gefahren - erreichten sie die Stelle, fanden das neue Schneemobil, die fünf Benzinkanister, die beiden geschlachteten Karibus und Jonathan Borodins erfrorenen Körper.
Als Kendra die traurige Prozession auf das Dorf zukommen sah, wusste sie, was sie erwartete, denn ganz Desolation war bereits alarmiert worden, dass sich wahrscheinlich eine Tragödie ereignet hatte, aber die Vorwarnung ließ einen die Nachricht vom Tod dieses außergewöhnlichen jungen Mannes nicht leichter verkraften, und sie lief auf die Stelle zu, wo man die Leiche, noch immer in der zusammengekauerten erstarrten Haltung, hingelegt hatte. »Mein Gott!« rief sie. »Was für eine schreckliche Vergeudung!« So war auch der allgemeine Tenor der Trauernden in Desolation Point.
Erst mit dem Ende des Schuljahrs spürte Kendra die ganze Auswirkung der Unglücksfälle, die die Frühlingsmonate verdunkelt hatten, die Monate, in denen eigentlich die Hoffnung wiederauferstehen sollte, und ganze zwei Wochen verbrachte sie untätig in der verlassenen Schule, füllte ihre Besteiliste für das kommende Jahr aus und kaufte für 2 . 000 Dollar völlig unnötige Kleinigkeiten, um damit irgendwann einmal ihren Schülern oder den Eltern eine Freude zu machen. Dann suchte eines Tages Afanasi, offensichtlich bekümmert um das Wohl jedes einzelnen in seinem Dorf, sie in ihrer Wohnung auf: »Es wird Zeit, dass Sie hier mal rauskommen. Fahren Sie nach Fairbanks oder Juneau oder von mir aus nach Seattle. Wir geben Zuschüsse für Erholungsreisen von Lehrern, hier haben Sie ein Ticket nach Anchorage mit einem Anschluss flug , wohin Sie wollen, wenn es nicht zu weit ist. Nach Utah, um Ihre Familie einmal wiederzusehen? Das ginge in Ordnung.«
»Im Augenblick habe ich keine große Lust auf meine Familie«, sagte sie mit fester Stimme, aber die beiden Tickets nahm sie trotzdem entgegen, eins nach Anchorage, das andere offen, und als sie in der Maschine Richtung Süden saß, mit wenig Gepäck, denn ihr Zuhause war jetzt in Desolation Point, das sie nur ungern verlassen hatte, sah sie sich selbst, als würde sie in einen Spiegel schauen, und zog nüchtern Bilanz: Ich bin jetzt sechsundzwanzig, und bislang habe ich noch nie vor der Frage gestanden: Heiraten oder nicht? Mit jedem Jahr über dreiundzwanzig verringern sich für eine Frau wie mich die Chancen, jemals einen Ehemann zu finden - aber ich will auch in Alaska bleiben, ich liebe das Leben dort, mich begeistern die Herausforderungen der Arktis ... mein Gott, was soll ich machen, ich bin so durcheinander?
Einer Sache war sie sich jedoch ganz sicher, und die bezog sich auf das Leben an sich, und während die Düsen des Flugzeugs unaufhörlich dröhnten, setzte sie ihr Selbstgespräch fort, als wäre sie Gegenstand einer Untersuchung durch einen unbefangenen Beobachter von außen: »Ich liebe die Menschen. Amy Ekseavik ist ein Teil meines Lebens. Und Jonathan Borodin - mein Gott, warum habe ich mich nicht öfter mit ihm unterhalten? Ich will nicht alleine leben. Die endlosen Jahre, das halte ich nicht aus. Die arktische Nacht, damit habe ich keine Schwierigkeiten, die geht irgendwann wieder vorbei, aber die Einsamkeit im Geist, die geht nie vorbei.«
Ganz langsam und eingestandenermaßen verwirrt entnahm sie ihrer Schulmappe aus Lederimitat ein zerknülltes Stück Papier, auf dem eine Adresse in Anchorage notiert war, und am Flughafen angekommen, lief sie schnell zu einem Taxi, als befürchtete sie, sie könne ihre Meinung doch noch ändern, und drückte dem Fahrer den Zettel in die Hand: »Wissen Sie, wo das ist?« Und er antwortete: »Ich würd’ sofort gefeuert, wenn ich’s nicht wüsste . Es ist das größte Apartmenthaus, das wir hier haben.« Sich voll darüber bewusst , dass es äußerst gewagt sein würde, ließ sie sich zu dem Haus fahren, nahm den Aufzug in den fünften Stock, klopfte an die Wohnungstür und erwartete, dass Jeb Keeler aufmachen und sich über ihren Besuch freuen würde.
Er freute sich riesig, und als sie ihm um den Hals fiel, flüsterte sie: »Ohne einen geliebten Menschen wäre ich in dem wütenden Schneesturm da oben beinahe untergegangen«, und er erwiderte: »Das kann ich verstehen.«
Später am Abend, als sie nebeneinanderlagen, gestand sie ihm: »Die Sache mit Amy und Jonathan, das ist mir zu Herzen gegangen. Da kommen wir als Lehrer an einen Ort, und es sind die Kinder, die uns was beibringen.« Und
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