Albertas Schatten
möchte ich deine Nenn-Tante sein. Unsere Beziehung soll diesen »Ehrenhalber-Charakter« haben, meiner Meinung nach die beste Art. Später kann es dir passieren, daß dir jemand einreden will, ich sei deine richtige Mutter. Das ist so eine romantische Geschichte, wie sie sich die Leute gern zusammenträumen. Also, ich bin nicht deine Mutter.
Aber ich möchte dir eine Freundin sein, so gut ich kann, und ich hoffe, das wird ausreichen. Und was vielleicht noch mehr bedeutet, ich verspreche dir folgendes: Wenn du alt genug für die Universität bist und gern eines der Mädchen-Colleges in Oxford besuchen möchtest – vorzugsweise Somerville oder Lady Margaret Hall – und gescheit genug bist, um ein Stipendium zu bekommen, werde ich dafür sorgen, daß das in Ordnung geht. Ist das ein Vorschlag? Du mußt dich anstrengen, weißt du, und gute Noten bekommen und rechtzeitig anfangen, dich auf die englische Aufnahmeprüfung vor-zubereiten. Ich glaube nicht, daß es schwer ist, in Amerika ein guter Student zu sein, und so mußt du damit rechnen, eventuelle Wissens-lücken aufzuarbeiten.«
Der Gedanke an Oxford, sogar an ein Mädchen-College, fing an, mich in meinen Träumen zu beschäftigen (und in den restlichen Tagen meines Aufenthaltes verbrachte ich eine Menge Zeit damit, sie mir anzusehen, besonders Somerville, wo meine Tante studiert hatte; Mädchen-Colleges hatten nie zu meiner Fremdentour gehört); ich schloß einen Kompromiß mit mir selbst für den Fall, daß es mir nicht gelingen würde, ein Junge zu werden.
Aber irgendwie stand fest, lange bevor ich die Universitätsreife hatte, daß ich mich auf ein amerikanisches College einstellen müßte.
Die Gründe wurden nie genannt; ich nehme an, es war zu schwierig, das Studium in England zu bewerkstelligen oder zu kostspielig.
Vielleicht gab es auch noch andere Gründe, die mit der Gesundheit meiner Tante zusammenhingen oder mit ihrer Position. Es gab noch weitere Sommer mit Cyril und meiner Tante und weitere Fahrten nach London; irgendwann hatte Cyrils Vater meine Fremdenführer-tätigkeit entdeckt und beschämte Cyril, weil nicht er auf eine solche Idee gekommen war. Da es Cyril ablehnte, mich zu begleiten, mußte ich sie aufgeben, wollte ich mir seine Freundschaft erhalten. Dann kam die Zeit, als wir allein fahren durften und allein ein Boot mieten.
Aber für mich ist England immer dieses erste Jahr, als ich noch nicht unabänderlich an ein Mädchenschicksal gebunden war und als ich einen Freund gefunden hatte.
5
A lbertas Tagebuch
Auf der Farm war ein Tag wie der andere, und es gab nur dann eine Abwechslung, wenn Ted und Jean beschlossen hatten, mir von vier bis sieben eine andere Nachmittagstätigkeit zuzuweisen als das Melken, das sie dann selbst übernahmen. Ich fuhr ganz gern mit dem Traktor über die Felder, die Häckselmaschine hinter mir und dahinter den Wagen, der die Silage aufnahm. Aber das gab es nur im Herbst.
Im Sommer fuhr ich auf die Wiesen, wenn ich nicht molk; ich mähte Gras für die Kühe, das ich dann über große Gestelle hängte. Meine Aufgaben wechselten zwar mit den Jahreszeiten, aber nicht so sehr wie die von Ted und Jean, denn ich hatte nur das ständige Melken oder die entsprechenden Ersatzarbeiten. Im Sommer arbeiteten sie oft bis zum späten Abend; im Winter erledigten sie die notwendigen Reparaturarbeiten und andere Dinge im Hause.
Die Gleichförmigkeit meiner Tage, wobei nur der Wechsel der Jahreszeiten anzeigte, wie die Zeit verging, die harte Arbeit, immer wieder abgelöst vom Lesen, Schreiben und Nachdenken, war genau das, was ich damals brauchte: Daß es mir gelungen war, mir dies alles nicht nur auszudenken, sondern auch in die Wirklichkeit umzu-setzen, schien mir wunderbar. Wie oft leben wir als absolute Gefan-gene von Ereignissen, ob wir sie nun selbst heraufbeschworen haben oder auch nicht, ohne zu wissen, was sie nach sich ziehen werden.
Ich hatte mir das Leben, das ich führte, selbst geschaffen. Es gab kleinere, unvorhergesehene Überraschungen. Manchmal, häufiger, als mir lieb war, wartete eines der Kinder vor dem Melkstall auf mich und fragte, ob es die Zitzen der Kühe reinigen oder das Futter zum Melkplatz bringen dürfte. Pfosten zum Anbinden wurden nicht mehr benutzt; im Stall stand jede Kuh an ihrem Platz und fraß, zufrieden, daß sie von der Maschine gemolken wurde, die ich ihr an-legte; die Melkmaschinen waren zu schwer für die Kinder. Die Milch lief direkt zum Kühlbehälter, so daß sie
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