Albertas Schatten
tatsächlich unberührt von menschlicher Hand war, wie man sagt, schon bevor sie pasteurisiert wurde; ausgenommen die Tatsache, daß ich die Milch für die Katzen abschöpfte und Ted und Jean immer die Milch für den Haus-gebrauch aus dem Kühlbehälter nahmen. (Ich mag keine Milch und nahm nur welche, wenn ich sie für irgendein ungewöhnliches Gericht brauchte). Niemand von uns trank jemals pasteurisierte Milch, aber Jean hat mir erzählt, daß sie, als die Kinder abgestillt waren, Milch im Laden kaufte, weil der Arzt es ihr geraten hatte. Ab und zu mußte eine Kuh von Hand gemolken werden, aber das kam nicht oft vor.
Es hatte etwas Rhythmisches und Ursprüngliches an sich. Die Kinder erzählten mir dieses und jenes und boten ihre Hilfe an. Ich erinnerte mich an die Einsamkeit meiner eigenen Kindheit und schickte sie nicht fort. Aber ich beantwortete keine persönlichen Fragen und hielt die Kinder auf eine gewisse Distanz.
Einmal in der Woche, wenn Jean für die eine oder andere Besor-gung nach Pittsfield fuhr, setzte sie mich in Lenox ab, wo es die beste Bibliothek der ganzen Gegend gab. Jede Woche lieh ich so viele Bücher aus, wie erlaubt waren, und brachte sie in der nächsten zurück. Während ich auf Jeans Rückkehr wartete, fing ich schon in der Bücherei an zu lesen; nur selten ging ich durch die Stadt, die im Sommer voll von Touristen war und im Winter absolut uninteressant.
Aber es gab eine Buchhandlung, die ich aufsuchte, auch wenn ich normalerweise kein Geld für Bücher hatte; manchmal entdeckte ich dort einen Buchtitel, den ich mir dann in der Bücherei auslieh.
Bei einem dieser Buchhandlungsbesuche – es war vielleicht vor einem Monat – hatte ich eine Biographie meiner Tante entdeckt. Ich nahm sie zur Hand und war sofort in eine andere Welt versetzt. Wäre die Buchhandlung in dem Moment in die Luft geflogen, ich hätte es nicht gemerkt. Auf dem Umschlag war ihr Bild als Rektorin ihres College. Es war keine autorisierte Biographie; die Autorin hatte keinerlei Unterstützung gehabt, wie sie stolz verkündete, mit Ausnahme von ein paar alten Bekannten, die froh waren, einige bittere Worte über meine Tante loswerden zu können. Das Buch nannte sie einen Snob und »enthüllte«, daß sie ein uneheliches Kind habe, mich, nehme ich an. Ich habe dieses Gerücht oft gehört, obwohl nur wenige wußten, wer das Kind war, wo es lebte und ob es ein Junge oder Mädchen war. Jetzt beunruhigt mich die ganze Sache.
Zu jener Zeit kam in der ganzen Welt ein Trend auf, den ich höchst rätselhaft fand, daß nämlich Adoptivkinder nach ihren »richtigen« Eltern suchten. Irgendein Gesetz machte in England und Amerika diesen Kindern die Adoptionsakten zugänglich, und so suchten sie nach ihren Müttern mit einer Beharrlichkeit, die zwangsläufig ihren Niederschlag in Romanen fand, wie ich sie in der Bücherei von Lenox auslieh. Es schien mir, als sei die Suche nach der
»richtigen« Mutter ein spezifisch weibliches Bedürfnis; was bedeutet es schon? Ich nehme an, daß Frauen in Wirklichkeit so wenige Abenteuer in ihrem Leben haben – nach der Zeit der Romanzen oder deren Zerbrechen –, daß sie nach einer gewissen Dramatik suchen, nicht in künftigen, noch nicht erzählten Geschichten, sondern in der Vergangenheit ihrer Geburt; immer das gleiche alte Lied. Ich bin nicht dafür, daß man adoptierten Kindern das Wissen um ihre wirklichen Eltern vorenthalten sollte, diese rückwärtsgerichtete Suche jedoch ist gut für gute Geschichten, aber schlecht für das Leben.
Ich denke zurück, natürlich, aber nicht an meine Eltern, sondern an Oxford und die herrlichen Sommer. Nachdem ich zu Ted und Jean gekommen war und eine befriedigende Art zu leben gefunden hatte, habe ich alle Bücher über Oxford gelesen, die ich in der Bü-
cherei finden konnte. Die meisten fand ich äußerst unzulänglich; es waren wirklich nur zwei, die mir gefielen, eines von James Morris, der in der Nähe von Oxford gelebt hatte und die Stadt heiter und liebenswert und mit großer schriftstellerischer Erfahrung beschrieb.
Das andere Buch, eine Sammlung von Essays von Menschen, die in Oxford studiert hatten, beeindruckte mich weniger, mit Ausnahme der Tatsache, daß John Betjeman die Dragon School besucht hatte –
und zu meinem großen Erstaunen auch Antonia Fraser (Cyril hatte nie erwähnt, daß Mädchen seine Schule besuchten, und hätte er es getan, wäre für mich eine Welt zusammengebrochen); Betjemans Beschreibung erinnerte mich an
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