Albertas Schatten
Jahren.
Und so begann meine Laufbahn als Oxfords jüngster Fremdenführer. Ich lieh mir heimlich einen kleinen Dreibein-Hocker von der Nachtwache und setzte mich dort nieder, wo die Touristen wahrscheinlich vorbeikommen würden. Ich lernte, einschmeichelnd meine Dienste anzubieten. Ich erfand eine Schule, die ich angeblich besuchte; mein Akzent war tadellos, zumindest für ausländische Ohren. Ich trug stets meine Schuluniform, sogar an den heißen Ox-fordtagen im Hochsommer, und ich hatte mir angewöhnt, aufzu-springen und in jedem Satz »Sir« und »Ma’am« zu sagen. Einen Teil meiner Einnahmen gab ich für eine Jungenschulmütze aus, den größ-
ten Teil aber sparte ich. Der Mädchenhut, der zu meiner Uniform gehörte, schien mir zu verweichlicht. Ich zog immer die Mütze, wie ein Junge. Auf der Mütze war ein Emblem, und ich hatte mir den Namen der Schule entsprechend ausgedacht.
Cyril erzählte ich nichts von dieser Karriere, der ich nur nachging, wenn er mit seinen Freunden unterwegs war und mich verspot-tet hatte. Mit ihm oder seiner Clique zu gehen, bedeutete mir alles: ein Junge zu sein, einer von ihnen. Dafür hätte ich alles andere aufgegeben. Dennoch erzählte ich ihm nichts von meinem Touristenjob, wenn es mich auch bei ihm und seinen Freunden in ein gutes Licht gerückt hätte. Als Grund dafür, daß ich ihm meine neuentdeckte Einnahmequelle und ihre Bedeutung verschwieg, diente mir der Vorwand, ihm von dem Geld ein Geschenk machen zu wollen. In Wirklichkeit, das wußte ich schon damals, hätte man niemals mich genommen, wenn auch er den Touristen seine Dienste angeboten hätte. Wer würde ein Mädchen nehmen, wenn er einen Jungen haben konnte?
Die meiste Zeit aber waren Cyril und ich allein zusammen, all die langen englischen Sommertage hindurch. Als das Sommertrimester zu Ende war, war meine Tante für einen Monat auf den Kontinent gereist. Cyrils Vater ging weiter in sein College oder vielleicht auch in die Bibliothek; wir fragten nicht. Sogar während der Ferien aß er im Institut. An den langen Abenden, an denen wir »schon bei Tageslicht zu Bett gehen mußten«, wie Robert Louis Stevenson in einem seiner Gedichte geschrieben hat, las uns Cyrils Mutter oft vor. Unser Zubettgehen wurde erträglicher durch ›Alice im Wunderland‹ und andere englische Geschichten und Gedichte; noch heute habe ich die Stimme von Cyrils Mutter im Ohr, sanft und mit sehr ausdrucksvol-ler Betonung. Obgleich wir augenzwinkernd vorgaben, ihr zuliebe zuzuhören, waren wir doch von Leigh Hunts Jenny, von der ›Kin-derwelt der Verse‹, von E. Nesbits Kindern und vor allem von Alice fasziniert.
Tagsüber, wenn wir zusammen waren, sprachen wir nie über das, was wir gelesen hatten oder über die Erwachsenen. Wir rannten durch Oxford, aber ohne Kopfbedeckung (meine Kappe war nur für berufliche Zwecke gedacht); manchmal warteten wir nachmittags bei der Bootsvermietung in der Hoffnung, daß uns jemand zu einer Bootsfahrt einladen würde – denn wir, besonders aber Cyril, waren nett aussehende Kinder. Selten einmal machte meine Tante nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub Ausflüge mit uns, zum Beispiel nach Blenheim; wir erzählten ihr nicht, daß wir es besser kannten als sie; oder in die Cotswolds, die Orte mit den springenden Forellen und den freundlichen Pubs, und mehrere Male nach London. Zu diesen Gelegenheiten wurden unsere Uniformen sorgfältig gebügelt; wir bekamen frische Hemden und benahmen uns besonders wohlerzo-gen.
Ich fürchte, ich habe meine Tante als sehr streng und unbeugsam dargestellt. Sie war nicht immer so. Sie gehörte zu jenen Leuten, glaube ich, die nie behaupten, Kinder zu mögen, und die sie daher mit einem gewissen distanzierten Respekt behandeln, der auch erwi-dert wird. Ich habe festgestellt, daß Kinder schnell heraushaben, wo Respekt nicht erwartet wird. Wenn sie jedoch gewisse Rechte der Erwachsenen anerkennen, können sich Beziehungen entwickeln, die auf besonders erfreuliche Weise Förmlichkeit und Vertraulichkeit verbinden. Ich möchte gern glauben, daß das in meiner Beziehung zu den Kindern von Ted und Jean so ist; so war es mit meiner Tante und Cyril und mir. Ich glaube, es hat mir bei Cyril ein paar Punkte eingetragen, daß sie meine Tante war, wenn auch nicht biologisch; ohne mich hätte er diese Ausflüge und das Eis nicht gehabt. Sie behandelte uns ganz gewissenhaft wie Gleichgestellte; wäre ich anders geartet gewesen, hätte ich ihr das vielleicht verübelt. Jedenfalls war
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