Albertas Schatten
ich, da ich Cyrils Vorrechte als Junge akzeptierte, froh, genauso wie er behandelt zu werden. Und, überflüssig zu sagen, ich fand es herrlich, als englisches Kind angesehen zu werden, sogar als englisches Mädchen. Meine Tante mochte meine steifen, förmlichen Manieren, und ich merkte, daß ich mich sogar noch steigerte im Verlauf des Sommers. Vielleicht hat sie während unserer Ausflüge entschieden, ob ich in künftigen Sommerferien wiederkommen sollte. Eines Tages, es war gegen Ende des Sommers, lud mich meine Tante allein (das heißt ohne Cyril) zum Tee in ihre Wohnung ein. Er rannte davon und gab vor, zu seinen Freunden zu gehen; ich fühlte mich illoyal ihm gegenüber, als ich allein hinging. Aber ich hatte ja gefragt, ob er auch kommen könnte, und sie hatte deutlich gesagt, daß sie mit mir unter vier Augen reden wollte. Ich war nie zuvor in ihrer Wohnung gewesen, die auf der Rückseite des Hauses einen eigenen Eingang hatte; sie erstreckte sich über die erste Etage und das Dachgeschoß.
Meine Tante hatte sich die Mühe gemacht, einen wunderbaren Kuchen zum Tee zu kaufen, den sie auf einem Tisch bei einem Fenster servierte. Von dort aus konnte man den ganzen Garten überblicken.
Ich hatte gedacht, ich wäre schüchtern ihr gegenüber, aber sie war so gerade heraus und ohne Umwege, daß ich fähig war, sie direkt anzusprechen, ohne die Augen niederzuschlagen, die Stimme zu senken oder meine Teetasse fallen zu lassen.
»Hast du Lust, jeden Sommer herzukommen, bei Cyril und seinen Eltern zu wohnen und mit mir Ausflüge zu machen?« fragte sie.
Ich sagte, daß ich große Lust hätte, daß ich England liebte und Oxford herrlich fände; ich sagte auch, daß ich, wenn man mich fragen würde, gern das ganze Jahr über hier leben und in einer echten Uniform in eine richtige Schule gehen würde.
»Das ist leider nicht möglich«, sagte sie, »und zwar weil Cyril im Winter den ganzen Tag in der Schule ist und ich wirklich viel zu tun habe. Außerdem wirst du deinen Leuten in Amerika fehlen.«
»Nein, die würden mich nicht vermissen«, sagte ich, »ganz bestimmt nicht.«
»Dein Vater würde dich vermissen«, sagte sie »Denk’ einen Augenblick darüber nach. Sicher wirst du das einsehen.«.
»Es wäre leichter für ihn, wenn ich nicht da wäre«, sagte ich.
»Dann könnte er die ganze Zeit mit ihr Zusammensein.« Meine Tante wußte, daß ich seine Frau meinte, die recht nett zu mir war – aber ich hatte nicht gerade zu einer Vertrautheit in ihren ersten Ehejahren beigetragen. Ich war gewillt, ihr in Zukunft meinen Vater zu überlassen, im Tausch gegen Cyril und England.
»Ich finde das nicht sehr fair ihm gegenüber«, sagte meine Tante.
»Aber ich mag England mehr als Amerika. Die Leute haben ein besseres Benehmen.« Da meine Tante mit Sicherheit meiner Meinung war, fand sie es schwierig, diesem Argument zu widersprechen.
»Das ist nicht das Problem«, sagte sie bestimmt und legte mir noch ein Stück Kuchen auf den Teller. »Ich habe dich nicht gefragt, wo du leben möchtest. Ich habe dich gefragt, ob du nächsten Sommer wiederkommen möchtest.«
Ich nickte und befürchtete, daß ich anfangen würde zu weinen.
Eine meiner Fantasievorstellungen unter der Blutbuche in Wadham (und eigentlich auch anderswo) war die, daß meine Tante mir sagen würde, ich könnte für immer bleiben. Irgendwie, ich weiß nicht einmal warum, stellte ich mir vor, daß es in Amerika schwieriger sein würde, ein Junge zu werden. Wahrscheinlich war es wegen der Kleider; zu jener Zeit trugen Mädchen in Amerika sehr mädchenhafte Kleider: Blue Jeans für beide Geschlechter lagen noch in ferner Zukunft. Vielleicht waren es die Umgangsformen, die mir gefielen, oder daß ich den Leuten die Colleges in Oxford zeigte; vielleicht fand ich auch, daß die englische Art, mit Kindern umzugehen, weniger Unterschiede machte zwischen den Geschlechtern.
»Sei nicht traurig«, sagte meine Tante aufmunternd, und ich glaube, sie freute sich, daß ich bleiben wollte, fürchtete aber gleichzeitig einen Ausbruch. »Du kannst dich doch schon auf nächsten Sommer freuen. Cyrils Mutter scheint glücklich zu sein, daß du wiederkommst. Sie ist eine einsame Frau, wie du vielleicht festgestellt hast. Nun, das wäre jedenfalls geklärt. Da ist noch eine andere Sache.« Ich blickte zu ihr auf. »Wie du ja schon weißt, bin ich nicht deine Tante. Weder deine Mutter noch dein Vater haben Geschwister. Aber ich war eine gute Freundin deiner Mutter und so
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