Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
notwendige Aufgaben erfüllen könnten. All das kann mit einem winzigen Chip kontrolliert werden, der in der Nähe der Verletzungsstelle implantiert wird, eine Art Kommandozentrum, die mit dem Rückenmark verbunden ist.«
Seine Augen wurden groß, und Janie konnte seine wachsende Begeisterung sehen. »Es wird bald so sein«, sagte er, »daß Leute, die sich wegen neurologischer Schäden nicht rühren können, sich wieder ohne Hilfe bewegen können, nur mit ihrem eigenen Körper! Stellen Sie sich das bloß vor! Stellen Sie sich vor, wie froh jemand ist, wenn er aus dem Rollstuhl aufstehen und zum ersten Mal wieder gehen kann. Denken Sie daran, wie aufregend es für jemanden sein wird, der wie ein Baby gefüttert werden mußte, wieder Gabel und Löffel zu benutzen. Ich würde für den Rest meines Lebens dafür arbeiten, das möglich zu machen.«
Sie hörte die Leidenschaft in seiner Stimme und verstand seine glühende Überzeugung, daß das, was er tat, absolut richtig war. »Ich glaube, ich bin vielleicht eifersüchtig«, sagte sie. »Wenn Sie so über das sprechen, was Sie machen, hört es sich nach einer wunderbaren Arbeit an. Ich bin nicht sicher, wie ich meine Arbeit finden werde, das heißt, wenn ich jemals die Zulassung bekomme, sie zu tun.«
»Das werden Sie«, sagte er, »da bin ich sicher. Dieses ganze Durcheinander ist nur eine Verzögerung. Und jetzt, da Sie geprintet sind, ist der Druck weg. Sie brauchen keinen Abreisetermin einzuhalten. Sie können sich Zeit lassen.«
»Aber Caroline nicht«, sagte sie. »Und ich bin nicht sicher, daß es für mich mit dem Printing erledigt ist. Mein Visum ist zeitlich begrenzt. Und mein Doktorvater in Massachusetts wartet bloß darauf, mich fertigzumachen, wenn ich nach Hause komme. Er wollte nicht mal, daß ich dieses Projekt überhaupt anfange. Er sagte, es wäre zu kompliziert, im Ausland zu graben. Ich dachte, es würde für mich eine nette Abwechslung sein. Eine Ab- wechslung war es ja, aber ob sie nett war, weiß ich nicht so recht.«
»Das tut mir leid für Sie«, sagte Bruce leise, »aber für mich war es wirklich nett, Sie wiederzutreffen.« Er lächelte erwartungsvoll.
Janie zwang sich, die letzten Reste von Wut über das, was im Laufe des letzten Tages passiert war, beiseite zu schieben. »Für mich war es auch schön. Ich bin froh, daß wir Zeit hatten, miteinander zu reden.«
Und als endlich der Wachmann wiederkam, einen ganzen Tag später, kannten sie einander sehr viel besser, als sie sich jemals hätten träumen lassen.
Der rostige Einkaufswagen holperte über die Londoner Straßen und ratterte laut auf dem Kopfsteinpflaster, aber die zerlumpte Frau, die ihn lenkte, schob ihn für den größten Teil des Tages weiter und murmelte dabei glücklich vor sich hin.
Trotz der holperigen Fahrt wachte Caroline nicht auf; sie schwebte dicht unter der Oberfläche des Bewußtseins, das von einem Traum überlagert wurde. Manchmal war er so schön, daß sie sich in ihrem Delirium wünschte, er sei Realität, dann wieder war er so gewaltsam und quälend, daß ihr schlafendes Bewußtsein sie zu wecken versuchte, aber ohne Erfolg.
Niemand beachtete sie oder versuchte sie aufzuhalten; sie waren nur zwei von vielen tausend zerlumpten, verlorenen »Marginalen«, die außerhalb der Norm der Londoner Gesellschaft lebten. Niemand nannte sie mehr »Penner« oder »Obdachlose«, doch trotz ihres neuen Namens waren sie noch immer diejenigen, die nirgends in der starren Sozialstruktur Englands nach den Ausbrüchen einen Platz finden konnten.
Die Frau, die jetzt den Einkaufswagen schob, hatte sich daran gewöhnt, von den sogenannten »normalen« Leuten gemieden zu werden; sie führte dieses Leben, weil es ihr besser gefiel als die anstrengende Alternative. Sie brauchte niemandem außerhalb ihrer zahlreichen Familie aus anderen Marginalen Rechenschaft abzulegen. Es gab in ganz London mehrere »Familien«, beinahe Clans, von denen einige unter Brücken oder in leerstehenden Gebäuden lebten; ihre eigene hatte sich in einem bewaldeten Gebiet am Rand eine Feldes südlich der Themse angesiedelt.
»Ruhe in Frieden«, murmelte sie vor sich hin, als sie an die frühere Besitzerin des Grundstück dachte, neben dem sie lebte, eine alte Frau, die kürzlich gestorben war und einen verschrobenen Sohn hinterlassen hatte, der selbst schon ein alter Mann war, als seine Mutter starb. Sie nahm eine Hand vom Griff des Einkaufswagens und bekreu- zigte sich; dann flüsterte sie ein kurzes
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