Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
Schon bald würde jemand bemerken, dass sie nicht einfach nur seekrank war; er trat direkt vor sie und sah sich rasch nach allen Seiten um, um festzustellen, ob sie beobachtet wurden.
Der Wind frischte auf, und das Schiff begann noch heftiger als zuvor auf den Wellen zu tanzen. Die anderen Passagiere sammelten sich im Bug. Sie wirkten ängstlich und verwirrt und begannen einen Kreis zu bilden. Alejandro stellte sich auf die Zehenspitzen und erblickte in ihrer Mitte einen Priester in einer braunen Kutte, der die Hände ausgestreckt hatte, als wolle er den Segen austeilen.
Während die anderen solcherart abgelenkt waren, beugte sich Alejandro nach vorne und hob mit einer Hand Emily Coopers
Kinn an. Sie schien nichts davon zu merken. An ihrem Hals entdeckte er mehrere dunkel verfärbte Beulen.
Der Wind blies immer heftiger. Die Leute im Bug klammerten sich aneinander und rückten zum Schutz vor dem Sturm noch enger zusammen, während der Priester gegen das Tosen anbrüllte.
Inmitten des Sturms und der aufspritzenden Gischt beugte Alejandro sich nach unten und hob Emily Cooper hoch. Für einen kurzen Moment öffnete sie die Augen, und der Ausdruck darin zeigte ihm, dass sie ihn erkannte. Er wandte seinen Blick von ihr ab hinaus aufs Meer. Mit zwei raschen Schritten war er an der Reling.
»Vergib mir«, sagte er. Er warf einen Blick zum Kreis der Passagiere, aber niemand sah zu ihnen her. Dann schloss er die Augen und ließ sie fallen. Im Heulen des Windes ging das Geräusch, mit dem sie auf dem Wasser aufschlug, nahezu unter, und über ihre Lippen war kein Laut gedrungen. An die Reling geklammert, blickte Alejandro nach unten und sah zu, wie Emily Cooper langsam versank. Alles, was von ihr übrig blieb, war der rote Hut, der noch ein paar Sekunden lang auf den Wellen tanzte, bis er ebenfalls in die Tiefe gezogen wurde.
Er tastete sich mit einer Hand an der Reling entlang, bis er bei den anderen Passagieren anlangte. Er fasste zwei von ihnen beim Handgelenk und drängte sich zwischen sie. Sie nahmen ihn bereitwillig in ihren Kreis auf, hießen ihn willkommen. Er hörte dem Priester zu, der in ihrer Mitte stand und weiterhin das Heulen des Windes zu übertönen versuchte.
Die lateinischen Worte - kyrie eleison - schwebten tausendmal über ihn hin, wie es schien. Er bat um Gnade, hoffte, dass irgendein Gott ihn hören würde, denn er bedurfte der Vergebung in diesem Augenblick nötiger denn je.
Das Schiff war, wie sich zeigte, trotz seiner schweren Fracht nicht überladen; sicher pflügte es durch die Wellen, auch wenn die Fahrt weiterhin von ungünstigen Winden begleitet wurde.
Am Morgen des darauffolgenden Tages passierten sie Ramsgate und erreichten die Themsemündung. Alejandro stand an der Reling, mit steifen Gliedern nach einer schlaflosen Nacht, die er von Selbstvorwürfen geplagt auf den harten Planken des Decks verbracht hatte. Mit müden Augen betrachtete er die vorüberziehende Landschaft, während das Schiff die Themse aufwärts fuhr, vorwärtsgetrieben von der hereinströmenden Flut.
Im Süden lag Canterbury, wie er wusste. Er stellte sich vor, wie die hohen Turmspitzen der Kathedrale in der Morgendämmerung schimmerten. Die Stunden vergingen, und der Fluss wurde schmaler; die Sonne erreichte ihren höchsten Stand und begann wieder zu sinken. Diejenigen, die diese Reise nicht zum ersten Mal unternahmen und mit der Strecke vertraut waren, wurden immer aufgeregter, je weiter sie sich London näherten. Mit jeder Flussbiegung wurde das Wasser trüber, am Rumpf des Schiffs trieben verfaultes Holz und aller mögliche Unrat, darunter auch Fäkalien, vorbei.
Zu seiner großen Erleichterung waren jedoch keine Leichen zu entdecken.
Als das Schiff schließlich im Hafen von London am Pier vertäut war, nicht weit entfernt vom Tower, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Alejandro wartete mit den anderen ärmeren Passagieren darauf, bis er an der Reihe war, von Bord zu gehen. Emily Cooper hätte jetzt die Röcke geschürzt und wäre über den Steg gelaufen; sie hätte Londoner Boden betreten und dabei ganz wie eine gut gestellte Bürgersfrau ausgesehen. Und dann wäre sie in der Menschenmenge auf der schlammigen Straße entlang der Themse verschwunden. Ein bitterer Geschmack breitete sich in Alejandros Mund aus; er hatte viel von seiner Zeit und seiner Fürsorge auf ihren Mann verwandt, nur damit sie den Medicus dann verriet. Die Vergeltung, die er wiederum dafür geübt hatte, würde ihm in ihrem Übermaß
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