Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
weitaus mehr Bürde sein als Erleichterung.
Sie wäre so oder so gestorben, sagte er sich. Sie hätte vielleicht
viele andere Passagiere mit der Pest angesteckt und sie mittenhinein nach London geschleppt. Ich habe nur das getan, was richtig war. Es war gut, dass ich …
Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Jetzt würde sich Emily Cooper zu den anderen gesellen, dem jungen Soldaten Matthews, dem altgedienten Recken Hernandez, dem Schmied Carlos Alderon und der unschuldigen Adele de Throxwood, um ihn in seinen Träumen zu verfolgen. Sie waren unerbittliche Begleiter, denen er niemals entkommen würde. Jetzt war er an der Reihe, von Bord zu gehen; er lief über den Steg, den Reisesack über eine Schulter geworfen. Auf halbem Weg blieb er stehen, denn dort auf dem Pier stand Emily Coopers Tasche mit der gefalteten Decke. Jemand, der dachte, sie wäre an Deck vergessen worden, musste sie mitgenommen haben. Das Ding starrte ihn anklagend an. Er stählte sich gegen die Stimme in seinem Inneren, die ihm laut seine Schuld vorhielt, und zwang sich weiterzugehen. Nach wenigen Schritten setzte er wieder einmal den Fuß auf englischen Boden.
Der Medicus musste nicht de Chauliacs Karte zu Rate ziehen, um zu wissen, dass kein anderer Weg vom Fluss wegführte; er musste am Tower vorbei, wenn er London verließ. Er zwängte sich durch ein Heer von Bettlern, die mit dreckigen, schorfigen Händen nach ihm griffen und um Erbarmen und Almosen baten. Obwohl er unwillkürlich tiefes Mitleid mit ihnen empfand, da ihnen das Schicksal so übel mitgespielt hatte, schlug er ihre Hände zur Seite, da er sich nicht als Mann zu erkennen geben durfte, der über gewisse Mittel verfügte. Als er dem Gewühl schließlich entkommen war, fühlte er sich schmutzig. Er wusch sich die Hände an einem Brunnen, und während er dann von dessen Wasser trank, dachte er an den alten Mann in der Taverne, der ihn vor dem von Juden vergifteten Wasser gewarnt hatte.
Aber in London gab es keine Juden mehr, außer ihm selbst vielleicht.
Schauerleute führten die Pferde über den Steg ans Ufer; das seine war eines der letzten. Während er darauf wartete, sah er beim Ausladen der übrigen Fracht zu. Ballen und Kisten wurden auf zusammengebundene Planken gehievt und festgezurrt und anschließend mithilfe von Seilzügen über die Reling des Schiffs auf den Pier geschwenkt. Aus den Staubwolken, die aufstiegen, wenn die Planken hart auf dem Boden aufsetzten, tauchten kleine schwarze Schatten auf und huschten davon.
Alejandro holte sein Pferd und führte das Tier auf seinem Weg durch die Straßen Londons am Zügel. Es kam ihm vor, als wäre er in einem grässlichen Albtraum gefangen. Er brachte es nicht über sich, das Wort an jemanden zu richten.
Mehrmals kamen Soldaten des Königs an ihm vorbei; einmal musste er sein Pferd zur Seite ziehen, um einer Schar Bogenschützen Platz zu machen, die an ihm vorbeigaloppierten. Dafür, dass angeblich Frieden herrschte, waren erstaunlich viele Soldaten zu sehen.
Aber bei einer bevorstehenden Hochzeit und einem unsicheren Frieden …
Sein Instinkt riet ihm zur Wachsamkeit. Als er den Tower hinter sich gelassen hatte, blickte er zurück auf die mächtige, furchteinflößende Festung und durchschritt im Geist das Labyrinth ihrer Gänge. Die wenigen englischen Worte, die er beherrscht hatte, als er 1348 in den Tower gekommen war, hatte er von einem Mann gelernt, der kaum Französisch konnte; seine ersten Versuche in der fremden Sprache, mit denen er sich in den Gemächern des Kastellans verständlich zu machen hoffte, waren bestenfalls lächerlich gewesen.
Aber jetzt war das nicht mehr so.
In einem Schlosse gefangen gar manches Jahr
Lebt’ eine Lady mit güldenem Haar.
Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr nach England sprach er einen der Vorübergehenden an.
»Könnt Ihr mir sagen, guter Mann, was für ein Tag heute ist?«
Der Mann antwortete ihm ohne Argwohn oder übermäßiges Interesse.
»Der achtundzwanzigste April, denke ich.«
Er bedankte sich für die Auskunft, dann befreite er sich aus dem Bann des Tower und führte sein Pferd die Straße hinunter.
Müdigkeit überkam ihn, als die Sonne sich dem Horizont näherte. Der achtundzwanzigste April. Er konnte sich eine Nacht Ruhe gönnen, die er bitter nötig hatte. Als er zu einer kleinen Taverne gelangte, aus deren geöffneter Tür der Geruch von Essen wehte, band er sein Pferd an einen Pfosten und trat ein.
Der Wirt war ein kleiner dürrer Mann mit
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