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Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus

Titel: Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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geringsten Zweifel. Er duckte sich rasch hinter einen Poller.
    Aber irgendetwas an ihr war anders; sie hatte stets eine frische rosige Gesichtsfarbe gehabt, selbst in den finstersten Stunden der Krankheit ihres Mannes. Jetzt war sie bleich und zitterte und hatte sich fest in ihr Tuch gewickelt. Der modische Hut mit der roten Feder, den sie trug, konnte an ihrem kränklichen Aussehen nichts ändern. Sie mühte sich mit einer Reisetasche ab und wollte sich nicht von dem Matrosen an Deck helfen lassen; über der Tasche hing ordentlich gefaltet dieselbe Decke, die Alejandro auf dem Sterbebett ihres Mannes hatte liegen sehen. Bei ihrem Anblick überkam ihn eine böse Vorahnung.
    Sie hatte sich irgendwie die Mittel beschafft, um nach England zurückzukehren. Die Familie hatte, solange er sie kannte, nie über Geld verfügt, auch nicht in der Zeit vor der schweren Erkrankung des Mannes. Emily hatte nur wenig von Wert besessen, das sie hätte verkaufen können …
    Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, als er sie höflich einem englischen Soldaten zunicken sah, der ihren Gruß mit einem Lächeln erwiderte, als würden sie sich kennen.
    Sie hatte ihn verraten.

    Alejandro wäre weggegangen und hätte auf das nächste Schiff gewartet, wäre nicht bereits sein Pferd an Bord gebracht worden. Als er an der Reihe war, zog er seinen Hut so tief in die Stirn, wie es nur ging. Er trat von dem Steg auf das Deck des Schiffs, das in seiner Vertäuung auf und ab schaukelte. Hastig ging er an dem Bootsmann vorbei und mischte sich unter die anderen Passagiere. Die Frau des Böttchers stand keine dreißig Schritte von ihm entfernt und blickte hinaus aufs Meer. Er schlug seinen Kragen hoch und beobachtete sie, während die Leinen losgemacht wurden und das Schiff in See stach.
    Er behielt sie den ganzen Tag über im Auge; sie stand beharrlich an derselben Stelle, mit dem Rücken an eine hölzerne Treppe gelehnt, die auf ein Oberdeck am Heck des Schiffs führte. Mit jeder Stunde, die verging, wurde sie blasser, und bei Sonnenuntergang setzte sie sich. Obwohl ständig irgendeiner der Matrosen die Treppe hinauf- oder hinabstieg, schenkte ihr niemand weiter Beachtung, und Alejandro kam zu dem Schluss, dass Seeleute es vermutlich nicht ungewöhnlich fanden, wenn ein Passagier seekrank zu werden schien.
    Aber sie wussten nicht, was er wusste, dass sie nämlich bereits krank an Bord gekommen war, lange bevor die hohen Wellen von La Manche Besitz von dem Schiff ergriffen hatten und es herumwarfen. Die Wasseroberfläche war noch spiegelglatt gewesen, als er ihre Krankheit bemerkt hatte.
    Würde sie ihn erkennen, ohne Bart und in europäischer Kleidung statt in der Tracht seines Volkes? Vielleicht. Aber wenn er recht hatte mit seinem Verdacht bezüglich ihres derzeitigen Zustands, dann würde sie nicht mehr klar denken können.
    In seinem Kopf erklang die Stimme eines alten Mannes, der die Geschichte eines Pestschiffs zu Beginn des großen Sterbens erzählte, auf seiner Flucht von Spanien nach Avignon vor tausend Leben.
    Es lag einen ganzen Monat im Hafen, bevor jemand es wagte, einen Fuß an Bord zu setzen.
    Er musste das Risiko eingehen, dass sie ihn erkannte. Die
pestis secunda wütete nicht so arg wie die Pest damals, aber sie war schlimm genug, und wenn das Schiff mit einem pestkranken Passagier in London ankäme, dann würde man es gewiss zur Mündung der Themse zurückschicken. Dort würden sie vor Anker gehen und warten müssen, bis entweder alle an Bord gestorben wären oder die Gefahr einer Ansteckung gebannt schiene - was Wochen dauern würde.
    Er hatte keine Zeit, wochenlang zu warten.
    Der Medicus hielt sich an der Reling fest, um dem heftigen Wind zu trotzen, und ging langsam von seinem Platz im Bug des Schiffs nach achtern, wo er einen genaueren Blick auf Emily Cooper werfen konnte. Er war vielleicht noch fünfzehn Schritte von ihr entfernt, als sie mit glasigen Augen aufblickte und ihn direkt ansah.
    Er verharrte mitten in der Bewegung und wartete. Sie hielt seinen Blick ein paar Sekunden lang fest; dann fiel ihr der Kopf auf die Brust. Er bewegte sich ein paar Schritte auf sie zu, sie rührte sich nicht. Er trat noch etwas näher; jetzt trennten ihn nur noch fünf Schritte von der Stelle, an der sie saß.
    Eine volle Stunde lang hielt er still und unbewegt Wacht über Emily Cooper, während die Sonne hinter dem Horizont versank. Ihr Zustand verschlechterte sich zusehends; sie begann zu husten, und ihr Zittern war nicht zu übersehen.

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