Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
wenn du meinen hübschen Sohn siehst, richte ihm bitte aus, dass seine Mutter ihn lieb hat.
Janie drehte sich um und sah, dass sich sämtliche Campbewohner um die Tür zum Labor drängten. Sie waren alle von dem einst gewohnten und schmerzlich vermissten elektronischen Geräusch geweckt worden. Janie lächelte, dann sah sie Evan an und sagte: »Deine Mutter lässt dir ausrichten, dass sie dich lieb hat.«
Michael war der Erste, der die Sprache wiederfand. Er trat
hinter Janie und sah ungläubig auf den Computerbildschirm. »Ich fasse es nicht«, sagte er. »Ist das wirklich eine E-Mail?«
»Es sei denn, wir träumen alle einen schönen Traum«, sagte Janie.
Am liebsten hätte sie Tom geweckt und gesagt: Siehst du? Du hast es geschafft.
»Können wir eine Antwort schreiben?«, fragte Caroline.
»Ich schätze schon«, sagte Janie. »Sonst wäre das Ganze doch sinnlos.«
Sie öffnete ein Fenster für eine neue E-Mail und gab die Adresse ein. »Mann, ist das schön … ich hatte schon fast vergessen, wie es geht. Was soll ich schreiben?«
Alle dachten nach, dann meinte Alex: »Schreib, dass wir es kaum erwarten können, sie zu besuchen.«
Gehorsam tippte Janie den Satz. »Sonst noch etwas?«
Caroline bat: »Frag sie, ob sie uns das Buch über Käseherstellung leihen, von dem Michael erzählt hat.«
Janies Finger tanzten über die Tastatur. »Erledigt.«
Evan sagte: »Schreib bitte meiner Mutter, dass ich sie auch lieb habe.«
Als jeder seinen Beitrag losgeworden war, war die Mail ellenlang. Janie klickte auf Senden. Sofort verschwand die Mail. Statt ihrer erschien ein kleines Fenster auf dem Bildschirm:
Nachricht erfolgreich verschickt.
Alle jubelten. Die nächsten paar Tage wanderten Witze und Rezepte über den Berg hin und her, so, als wäre der E-Mail-Verkehr nie unterbrochen gewesen. Schmerzen und Wehwehchen wurden beschrieben, um die Ärztin auf die Patienten vorzubereiten, die sie in Orange erwarteten. Ihr ganzes Leben bekam einen neuen Rhythmus; es schien schneller zu werden.
Ab und an erreichte sie eine E-Mail von einem unbekannten Absender. Wenn Janie sich traute, sie zu öffnen, schienen alle die eine oder andere Version derselben Nachricht zu enthalten:
Ist dort draußen jemand? Wir sind freundlich gesinnt.
Es gab keinen Zweifel, die Menschheit ordnete sich neu. Diese gelegentlich eintreffenden Nachrichten von potenziellen Verbündeten waren Gegenstand hitziger Debatten am Abendbrottisch. Michael setzte sich vehement dafür ein, sich der Außenwelt zu öffnen und sie auszukundschaften. Caroline wollte sich in der Abgeschiedenheit ihres Camps verstecken. Terry und Elaine wollten unbedingt herausfinden, ob irgendjemand ein Heilmittel für die Alzheimerkrankheit kannte, die bei ihrer Mutter ein solches Zerstörungswerk angerichtet hatte, und drängten daher auch nach draußen.
Aber Janie erklärte sich ausschließlich zu den Besuchen in Orange bereit, bis Tom wieder halbwegs hergestellt und einsatzfähig sein würde. Michael hatte ihm ein Paar brauchbare Krücken angefertigt, und er konnte schon ganz gut mit ihnen umgehen, aber es würde noch einige Zeit dauern, bis ihr wohl dabei wäre, ihn länger als die paar Tage während ihrer »Rotation« allein zu lassen.
Daher widmete sie sich mit viel Energie der medizinischen Ausbildung von Alex, so wie sich Alejandro der Übertragung des alchemistischen Manuskripts gewidmet hatte, als er das erste Mal von Kate getrennt gewesen war. Damit konnte sie sich sinnvoll die Zeit vertreiben, bis der Tag ihres Aufbruchs nach Orange kam. Eines Nachmittags, als sie über einem Abschnitt ihres Anatomielehrbuchs über das Skelett saßen, hörten sie das Piepsen, das das Eintreffen einer E-Mail verkündete.
Alex sah von dem Text auf. »Darf ich sie aufmachen, Mom?«
Die Aufgeregtheit in seiner Stimme ließ sie schwach werden.
»Natürlich«, sagte sie.
Er lief davon, von einem Ohr zum anderen grinsend, und kam gleich darauf zurück, um ihr Bericht zu erstatten. »Sie ist von Lany«, sagte er. »Und ziemlich lang.«
Janie stand auf und ging ins Labor.
Wenn es noch etwas gibt, das du wissen musst, bitte frag. Du kennst unsere Medikamentenvorräte …
Ungefähr in dem Tenor ging es weiter, bis zur letzten Zeile:
Und, Janie, vergiss nicht, Alex zu sagen, was für ein besonderer Junge er ist!
Das klang völlig unschuldig, Alex hätte es lesen können, ohne die eigentliche Bedeutung der Worte zu verstehen.
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und
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