Aleph
mehr als fünf Minuten in Anspruch, der Rest der Zeit steht für einen offenen Gedankenaustausch zur Verfügung. Ich erkläre den Zuhörern, ich sei nicht hergekommen, um irgendwelche Statements abzugeben, sondern dass mir im Gegenteil daran gelegen sei, mit meinen Lesern ins Gespräch zu kommen.
Eine junge Frau stellt die erste Frage: Was es mit den Zeichen auf sich habe, von denen in meinen Büchern so häufig die Rede sei? Wie man sie erkennen könne? Ich erkläre, dass sie eine sehr persönliche Sprache sind, die wir im Laufe eines Lebens nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum erlernen, bis wir begreifen, dass Gott uns führt. Jemand anders will wissen, ob mich ein Zeichen nach Tunesien gebracht hat. Ich sage ja, gehe aber nicht weiter ins Detail.
Weitere Fragen folgen, die Zeit vergeht wie im Flug, und die Veranstaltung neigt sich ihrem Ende zu. Ich wähle für die letzte Frage unter den sechshundert Menschen im Publikum einen Mann mittleren Alters mit einem dicken Schnurrbart aus.
»Ich möchte keine Frage stellen«, sagt er. »Ich möchte nur einen Namen nennen.«
Und er nennt den Namen einer kleinen Kapelle in Barbazan-Debat, die Tausende von Kilometern von dem Ort entfernt liegt, an dem ich mich jetzt befinde. In dieser Kapelle habe ich einmal zum Dank für ein Wunder eine kleine Tafel angebracht. In diese Kapelle bin ich vor dieser »Pilgerreise« gegangen, um die Heilige Jungfrau zu bitten, meine Schritte zu beschützen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich reagiert habe. Einer der Veranstalter des Abends hat es mir nachträglich beschrieben:
Plötzlich schien das Universum stillzustehen. Ich sah Ihre Tränen. Und ich sah die Tränen Ihrer sanften Frau, als jener anonyme Leser den Namen einer weit entfernten einsamen Kapelle aussprach.
Ihre Stimme versagte. Ihr eben noch lächelndes Gesicht wurde ernst. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Sie verlegen wegwischten.
Ich selber spürte unwillkürlich auch einen Kloß im Hals. Ich blickte mich suchend nach meiner Frau und meiner Tochter um, wie immer, wenn ich mit einer Situation konfrontiert bin, in der ich mich hilflos fühle. Sie saßen im Publikum, den Blick fest auf Sie gerichtet, als wollten sie Ihnen mit ihren Blicken beistehen.
Daraufhin sah ich hilfesuchend zu Christina hinüber in der Hoffnung auf einen Hinweis, wie ich diese nicht enden wollende Stille beenden könnte. Da sah ich, dass auch sie leise weinte, und mir schien, als wären Sie beide Töne derselben Melodie und einander ganz nah, obwohl Sie so weit auseinandersaßen.
Für Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, war es, als gäbe es außer Ihnen beiden niemanden mehr im Saal… Sie und Ihre Frau waren plötzlich an einem Ort, an den Ihnen niemand folgen konnte. Was blieb, war reine Lebensfreude, spürbar in der Stille und Bewegtheit aller Anwesenden.
Worte sind Tränen, die zu Papier gebracht wurden. Tränen sind Worte, die sich ausdrücken wollen. Ohne sie hat Freude keinen Glanz, Traurigkeit kein Ende. Haben Sie deshalb Dank für Ihre Tränen.
Ich hätte der jungen Frau, die mir die Frage nach den Zeichen gestellt hatte, noch erklären sollen, dass dieses eines sei. Ein Zeichen, das mir sagt, dass ich mich zur rechten Zeit am rechten Ort befinde, obwohl ich nicht genau begriffen habe, was mich hierhergeführt hat.
Aber ich glaube, das erübrigte sich: Sie wird es vermutlich verstanden haben.* [Anmerkung des Autors: Ich habe den Mann mit dem Schnurrbart gleich nach der Veranstaltung angesprochen. Sein Name war Christian Dhellemmes. Wir haben nach diesem Vorkommnis einige E-Mails gewechselt, sind einander aber nie wieder begegnet. Er starb am 19. Juli 2009 in Tarbes.]
***
Meine Frau und ich gehen Hand in Hand über den Basar von Tunis, fünfzehn Kilometer von den Ruinen Karthagos entfernt, das in ferner Vergangenheit das mächtige Rom herausgefordert hatte. Wir unterhalten uns über die Heldentaten von Hannibal, dem legendären Feldherrn. Die Römer hatten eine Seeschlacht erwartet, schließlich waren Karthago und Rom nur durch ein paar hundert Kilometer Meer voneinander getrennt. Aber Hannibal zog mit seinem riesigen Heer durch die Wüste, passierte die Meerenge von Gibraltar, durchquerte Spanien und Frankreich, überwand mit Soldaten und Elefanten die Alpen und griff das Imperium von Norden aus an - die Schlacht ging als einer der beeindruckendsten militärischen Erfolge in die Geschichte ein.
Er besiegte jeden, der sich ihm in den Weg stellte, zögerte dann
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