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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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jedoch - bis heute weiß niemand genau, warum -, Rom anzugreifen und verpasste so den richtigen Moment, die Stadt einzunehmen. Das Ergebnis dieser Unentschlossenheit: Karthago wurde von römischen Legionen von der Landkarte ausradiert.
    »Hannibal hielt inne und wurde besiegt«, denke ich laut. »Ich bin dankbar, dass ich es geschafft habe, mich wieder in Bewegung zu setzen, auch wenn der Anfang schwer war. Langsam gewöhne ich mich an das Unterwegssein.«
    Meine Frau tut so, als hätte sie mich nicht gehört, denn ihr ist klar, dass ich versuche, mich selbst davon zu überzeugen. Wir sind auf dem Weg in ein Cafe, um dort einen Leser zu treffen, Samil, den wir auf der Party nach der Veranstaltung kennengelernt haben. Ich hatte ihn gebeten, alle touristischen Sehenswürdigkeiten zu meiden und uns dorthin zu bringen, wo sich das wahre Leben der Stadt abspielt.
    Er führt uns zu einem schönen Gebäude, in dem im Jahr 1754 ein Mann seinen Bruder getötet hatte. Der Vater der beiden beschloss, diesen Palast zu bauen, um dort eine Schule einzurichten und so die Erinnerung an den ermordeten Sohn lebendig zu halten. Ich bemerke, dass man sich so auch an den Mörder erinnert.
    »So darf man das nicht sehen«, sagt Samil. »In unserer Kultur sind auch diejenigen mitschuldig, die das Verbrechen ermöglicht haben. Wenn ein Mann ermordet wird, muss sich derjenige, der die Waffe dafür verkauft hat, ebenfalls vor Gott verantworten. Der einzige Weg, der dem Vater blieb, um wiedergutzumachen, was er für seinen eigenen Fehler hielt, war, das Unglück in etwas zu verwandeln, woraus andere einen Nutzen ziehen konnten.«
    Plötzlich verschwindet alles vor meinen Augen - die Fassade des Gebäudes, die Straße, die Stadt, Afrika. Ich mache einen gewaltigen Satz ins Dunkle und finde mich in einem Tunnel wieder, der in einen feuchten Keller mündet. Ich stehe J. gegenüber, in einem meiner vielen früheren Leben, 200 Jahre bevor das Verbrechen in jenem Haus begangen wurde. Er sieht mich mahnend an.
    Ebenso schnell kehre ich in die Gegenwart zurück, das alles hat nicht mehr als den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Das Haus, Samil, meine Frau und das Stimmengewirr der Straßen von Tunis sind wieder da. Wozu dieser Ausflug in die Vergangenheit? Warum hören die Wurzeln des chinesischen Bambus nicht auf, die Pflanze zu vergiften? Jenes Leben wurde bereits gelebt, der Preis bezahlt.
    »Du bist ein Mal feige gewesen, während ich viele Male ungerecht war. Aber diese Erkenntnis hat mich befreit«, hatte J. in Saint-Martin gesagt. Ausgerechnet er, der mich nie dazu ermutigt hatte, in die Vergangenheit zurückzukehren, und der unermüdlich gegen alle Bücher und Übungen wetterte, die dies lehrten.
    »Anstatt Rache zu üben, was nur eine einmalige Bestrafung bedeutet hätte, gründete er eine Schule, in der nun seit mehr als zweihundert Jahren Wissen weitergegeben werden konnte«, schließt Samil.
    Ich habe jedes Wort mitbekommen, das Samil gesagt hat, und dennoch einen riesigen Sprung in die Vergangenheit gemacht.
    »Das ist es.«
    »Was ist es?«, fragt meine Frau.
    »Ich bin auf dem richtigen Weg. Ich beginne zu begreifen. Es ergibt alles einen Sinn.«
    Ich bin ganz euphorisch; Samil ist vollkommen verwirrt.
    »Wie steht der Islam zum Thema Reinkarnation?«, frage ich.
    Samil schaut mich überrascht an.
    »Ich habe keine Ahnung, ich bin kein Gelehrter«, sagt er.
    Ich bitte ihn, es herauszufinden. Samil nimmt sein Handy und macht ein paar Telefonate. Meine Frau und ich gehen inzwischen an die Bar und bestellen zwei Tassen extrastarken schwarzen Kaffee. Wir sind beide müde, aber uns steht noch ein Abendessen bevor, und so widerstehen wir der Versuchung, einen Snack zu uns zu nehmen.
    »Ich hatte gerade ein Dejá-vu«, erkläre ich.
    »Das haben doch alle hin und wieder. Dazu muss man kein Magier sein«, spottet Christina.
    Selbstverständlich nicht. Aber ein Dejá-vu ist mehr als dieser flüchtige überraschende Moment, den wir schnell wieder vergessen, weil er keinen Sinn ergibt. Ein Dejá-vu zeigt uns, dass die Zeit nicht vergeht. Man wird dabei in eine Situation versetzt, die man schon einmal erlebt hat und die sich in diesem Augenblick wiederholt.
    Samil ist verschwunden.
    »Während der junge Mann die Geschichte des Hauses erzählt hat, wurde ich für eine Millisekunde in die Vergangenheit versetzt. Ich bin sicher, dass dies in dem Augenblick passiert ist, als er sagte, die Verantwortung liege nicht allein beim Mörder, sondern auch bei

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