Aleph
allen, die die Voraussetzungen für das Verbrechen geschaffen haben. Als ich J. 1982 zum ersten Mal traf, erwähnte er etwas von einer Verbindung zwischen mir und seinem Vater. Später ist er nie wieder darauf zurückgekommen, und auch ich hatte es vergessen. Aber vor ein paar Augenblicken habe ich seinen Vater gesehen. Und jetzt ist mir klar, was J. damals gemeint hat.«
»In jenem Leben, von dem du mir erzählt hast…«
»Genau. In jenem Leben. Während der spanischen Inquisition.«
»Das ist vorbei. Es bringt nichts, sich wegen etwas zu quälen, was in ferner Vergangenheit geschehen ist.«
»Ich quäle mich nicht. Ich habe schon vor vielen Jahren gelernt, dass ich meine Wunden nur heilen kann, wenn ich mich dem stelle, was sie verursacht hat. Ich habe auch gelernt, mir selber zu vergeben, meine Fehler wiedergutzumachen. Aber seit ich zu dieser Reise aufgebrochen bin, kommt es mir so vor, als stünde ich vor einem riesigen Puzzle, dessen Teile ich eines nach dem anderen aufdecke: Liebe, Hass, Opfer, Vergebung, Freude, Leid. Und deshalb bin ich jetzt mit dir hier. Ich fühle mich sehr viel besser, so, als wäre ich tatsächlich auf der Suche nach meiner Seele, nach meinem eigenen Reich, anstatt ständig darüber zu klagen, dass ich es nicht schaffe, mit dem, was ich gelernt habe, etwas anzufangen. Das kommt daher, dass ich es nicht recht verstehe. Aber wenn ich es irgendwann verstehe, wird mich die Wahrheit befreien.«
***
Samil ist zurück und hat ein Buch mitgebracht. Er setzt sich zu uns, wirft einen Blick in seine Notizen und blättert behutsam in dem Buch, arabische Worte murmelnd.
»Ich habe mit drei Gelehrten gesprochen«, sagt er schließlich. »Zwei von ihnen erklärten, dass die Gerechten nach dem Tode ins Paradies kommen. Der dritte empfahl mir jedoch, einige Suren des Korans nachzulesen.«
Samil wirkt ganz aufgeregt.
»Hier ist die erste: 2:28 >Allah wird dich sterben lassen und dann wieder zum Leben erwecken, und du wirst wieder zu ihm zurückkehren.< Meine Übersetzung ist nicht die beste, aber das heißt es sinngemäß.«
Hektisch blättert er weiter und übersetzt die zweite Sure, 2:154: »Und sag nicht über jene, die im Namen Allahs ihr Leben verloren: >Sie sind tot.< Denn sie leben, auch wenn du sie nicht sehen kannst.«
»Genau!«
»Es gibt noch weitere Suren. Aber mir ist, ehrlich gesagt, nicht ganz wohl dabei, jetzt darüber zu reden. Ich möchte lieber über Tunis sprechen.«
»Du hast mir gesagt, was ich wissen wollte. Die Menschen verlassen uns nie ganz, und wenn wir hier sind, sind wir immer auch in unseren vergangenen und zukünftigen Leben. Dieses Thema taucht auch in der Bibel auf. Ich erinnere mich an eine Stelle, an der Jesus von Johannes dem Täufer als von der Präfiguration des Propheten Elias spricht: >Und wenn ihr es annehmen wollt, ist Johannes der Elias, der kommen wird.< Ich erinnere mich an einige solcher Stellen.«
Samil beginnt, einige Legenden über die Entstehung der Stadt zu erzählen. Und ich verstehe, dass es Zeit ist, unseren Stadtrundgang fortzusetzen.
***
Über einem der Tore in der alten Stadtmauer hängt eine Laterne, und Samil erklärt uns, was es damit auf sich hat:
»Auf diese Laterne geht eines der berühmtesten arabischen Sprichworte zurück: >Das Licht fällt nur auf den Fremden.<«
Samil fühlt sich durch das Sprichwort angesprochen, denn er kämpft darum, als Schriftsteller in seinem eigenen Land anerkannt zu werden, während mich, einen Fremden aus Brasilien, hier schon alle kennen.
Ich sage, dass wir ein ähnliches Sprichwort haben: >Ein Prophet gilt nichts in seinem eigenen Land.< Wir neigen dazu, nur das wertzuschätzen, was aus der Ferne kommt, ohne einen Blick zu haben für die Schönheit, die uns umgibt. »Aber«, fahre ich fort, »hin und wieder müssen wir uns betrachten, als wären wir Fremde, dann wird das in unserer Seele verborgene Licht erhellen, was wir sonst nicht sehen.«
Ich hatte den Eindruck, dass meine Frau das Gespräch nicht verfolgt. Doch dann wendet sie sich plötzlich an mich:
»Diese Laterne hat mich auf etwas gebracht, ich kann es noch nicht genau erklären, aber es hat etwas mit deiner jetzigen Situation zu tun. Ich sage es dir, wenn ich es weiß.«
Wir schlafen ein wenig, essen mit Freunden zu Abend und bummeln dann wieder durch die Stadt. Erst da gelingt es meiner Frau, ihr Gefühl vom Nachmittag in Worte zu fassen.
»Du bist auf Reisen, aber eigentlich hast du dein Haus nicht verlassen.
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