Aleph
Ich versuche, freundlich zu sein, und sage, wir würden uns am nächsten Tag sehen. Mein Verleger weist darauf hin, dass ich erwartet werde, und ich nutze diesen Vorwand und verabschiede mich.
»Mein Name ist Hilal«, sagt sie, bevor sie geht.
Zehn Minuten später bin ich in meinem Zimmer und habe die junge Frau beinahe vergessen. Ich erinnere mich schon nicht einmal mehr an ihren Namen und würde sie wahrscheinlich auch nicht erkennen, sollte ich sie jemals wiedersehen. Und trotzdem fühle ich mich seltsam unwohl: Ich habe in ihren Augen sowohl Liebe als auch den Tod gesehen.
Ich ziehe mich aus, drehe die Dusche auf und stelle mich unter das Wasser - eines meiner Lieblingsrituale.
Ich halte den Kopf so, dass ich nur das Rauschen des Wassers in meinen Ohren hören kann. Das Geräusch macht mich frei von allem und trägt mich weg in eine andere Welt. Wie ein Dirigent, der jedes Instrument in seinem Orchester wahrnimmt, kann ich einzelne Klänge unterscheiden, die sich zu Worten formen. Ich verstehe diese Worte nicht, aber ich weiß, sie sind da.
Die vielen Länder, die während dieser Reise schon aufeinandergefolgt waren, haben mich müde, unruhig und orientierungslos gemacht - all das verschwindet langsam. Mit jedem Tag, der vergeht, spüre ich mehr, dass das alles tatsächlich den erwünschten Effekt hat. J. hat recht gehabt, ich hatte mich langsam von der Routine vergiften lassen: Eine Dusche diente nur noch dazu, meine Haut zu reinigen, Mahlzeiten dazu, meinen Körper zu ernähren, und Wanderungen hatten keinen anderen Zweck mehr, als zukünftig Herzprobleme zu vermeiden.
Doch diese Dinge beginnen nun, sich zu verändern, unmerklich zwar, aber sie verändern sich. Mahlzeiten sind jetzt Augenblicke, in denen ich die Gegenwart meiner Freunde und das, was sie mir zu erzählen haben, schätzen kann. Wanderungen sind wieder eine Meditation über den Augenblick, und das Rauschen des Wassers in meinen Ohren bringt meine Gedanken zum Schweigen, beruhigt mich und lässt mich aufs Neue lernen, dass uns die kleinen alltäglichen Dinge Gott näher bringen - sofern ich jedem einzelnen den Wert beimesse, den es verdient.
Als J. zu mir sagte: »Gib dein bequemes Leben auf, und mach dich auf die Suche nach deinem Reich«, fühlte ich mich betrogen, verwirrt und alleingelassen. Ich hatte darauf gehofft, dass er meine Zweifel zerstreuen könnte oder Antwort auf meine Fragen wüsste, auf etwas gehofft, das mich tröstete und mir meinen Seelenfrieden wiedergab.
Alle, die sich auf eine solche Suche nach ihrem Reich begeben, wissen jedoch, dass sie nichts dergleichen finden werden - nur Herausforderungen und lange Perioden des Wartens, die sich mit unerwarteten Wendungen abwechseln, oder, was noch schlimmer ist: Sie finden womöglich überhaupt nichts.
Doch ich übertreibe. Das, was wir suchen, sucht immer auch uns.
Dennoch muss man auf alles gefasst sein. In diesem Augenblick treffe ich eine Entscheidung, die schon lange fällig war: Wenn ich auf dieser Zugreise nichts finde, werde ich trotzdem nicht aufgeben - denn seit jenem Moment im Hotel in London, der mir die Augen geöffnet hat, weiß ich, dass, obwohl meine Wurzeln bereit waren, meine Seele ganz allmählich an etwas starb, das schwer zu diagnostizieren und noch viel schwieriger zu heilen ist.
Routine.
Routine hat nichts mit Wiederholung zu tun. Um in einer Sache wirklich gut zu sein, egal wobei, muss man üben und wiederholen, üben und wiederholen, bis man die Technik intuitiv beherrscht. Das habe ich bereits als Kind gelernt, in einem Städtchen im ländlichen Brasilien, wo meine Familie im Sommer die Ferien verbrachte. Ganz in der Nähe wohnte damals ein Schmied. Ich konnte stundenlang danebensitzen, wenn sein Hammer wieder und wieder auf das heiße Eisen niederging und ringsum Funken sprühten wie Feuerwerk. Einmal sagte er zu mir:
»Du denkst wahrscheinlich, dass ich immer das Gleiche mache?«
»Ja«, antwortete ich.
»Du irrst dich. Jeder Schlag mit dem Hammer ist unterschiedlich stark, manchmal härter, manchmal sanfter. Wie viel Kraft es jeweils braucht, konnte ich erst einschätzen, nachdem ich diese Bewegung viele Jahre lang wiederholt hatte. Bis der Punkt kam, an dem ich nicht mehr darüber nachzudenken brauchte. Ich lasse einfach meine Hand den Hammer führen.«
Diesen Satz habe ich nie wieder vergessen.
Seelen miteinander teilen
Bei den Signierstunden sehe ich jedem meiner Leser in die Augen, gebe ihm die Hand und danke ihm dafür, dass er
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