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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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Arabischen scheint Hilal etwas anderes zu heißen, aber ich weiß es nicht genau.«
    Ich gebe mich nicht geschlagen.
    »Aber, um noch einmal auf das zurückzukommen, worüber wir gerade sprachen. Macht es Ihnen etwas aus, es uns zu erzählen? Wir sind doch sozusagen unter uns.«
    Unter uns? Die meisten Leute sind sich bei diesem Abendessen zum ersten Mal begegnet.
    Alle sind plötzlich eifrig mit ihren Tellern, ihrem Besteck und ihren Gläsern beschäftigt und tun so, als seien sie ganz auf das Essen konzentriert. In Wahrheit aber brennen sie darauf, auch noch den Rest der Geschichte zu hören. Hilal antwortet, als wäre das alles nichts Besonderes.
    »Es war ein Nachbar, freundlich, hilfsbereit, dem man auch in schwierigen Situationen vertraute. Er war verheiratet und hatte zwei Töchter in meinem Alter. Jedes Mal, wenn ich in sein Haus kam, um mit den Mädchen zu spielen, setzte er mich auf seinen Schoß und erzählte mir Geschichten. Allerdings streichelte er mich dabei immer, was ich anfangs als Ausdruck seiner Zuneigung deutete. Irgendwann wanderte seine Hand zwischen meine Beine, und er wollte, dass ich seinen Penis berühre, solche Dinge.«
    Sie sieht die fünf Frauen am Tisch an und fügt hinzu:
    »Ich glaube, das kommt leider gar nicht so selten vor. Meinen Sie nicht auch?«
    Keine von ihnen antwortet. Mein Gefühl sagt mir jedoch, dass mindestens eine oder zwei ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
    »Doch das war nicht das Schlimmste, sondern dass ich begann, Gefallen daran zu finden, obwohl ich wusste, dass es nicht richtig war. Eines Tages beschloss ich, nicht wieder dorthin zu gehen, obwohl meine Eltern darauf bestanden, ich solle mehr mit den Töchtern unseres Nachbarn spielen. Damals hatte ich gerade begonnen, Geige zu lernen, und erklärte meinen Eltern, dass ich im Unterricht nicht gut genug sei und noch mehr üben müsse. Ich fing an, geradezu zwanghaft und verzweifelt zu spielen.«
    Keiner am Tisch rührt sich, keiner weiß so recht, was er dazu sagen soll.
    »Und wie alle Opfer fühlte auch ich mich am Ende schuldig, so sehr, dass ich mich unbewusst immer weiter bestrafte. Seither waren all meine Beziehungen zu Männern immer von Leiden, Konflikten und Verzweiflung geprägt.«
    Sie starrt mich an, was keinem am Tisch entgeht.
    »Aber das wird sich jetzt ändern, nicht wahr?«
    Obwohl ich in solchen Situationen sonst immer etwas zu sagen weiß, fällt mir jetzt nichts mehr ein. Ich murmele nur »ich hoffe doch« und spreche dann übergangslos über das schöne Gebäude, in dem die brasilianische Botschaft in Moskau untergebracht ist.
     
    ***
     
    Nach dem Abendessen erkundige ich mich, wo Hilal untergebracht ist, und frage meinen Freund, ob er sie nicht nach Hause bringen könnte, bevor er mich im Hotel absetzt. Er willigt ein.
    »Vielen Dank für die Musik. Vielen Dank, dass Sie Ihre Geschichte mit Menschen geteilt haben, die Ihnen vollkommen fremd waren. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Widmen Sie jeden Morgen, wenn Ihr Geist noch leer ist, dem Göttlichen etwas Zeit. Die Luft enthält eine kosmische Kraft, für die jede Kultur einen anderen Namen hat, aber der Name ist unwichtig. Es kommt darauf an, zu tun, was ich Ihnen jetzt sage. Atmen Sie tief ein, und bitten Sie, dass die Gnade, die in der Luft enthalten ist, in Ihren Körper eindringt und sich auf jede einzelne Zelle verteilt. Atmen Sie langsam aus, und übertragen Sie die Freude und den Frieden auf Ihre Umgebung. Wiederholen Sie das zehnmal. Damit werden Sie sich selber heilen und so auch zur Heilung der Welt beitragen.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Nichts. Versuchen Sie es. Dann werden sich Ihre negativen Gefühle für die Liebe ändern. Lassen Sie sich nicht von einer Kraft zerstören, die eigentlich in unsere Herzen gelegt wurde, um alles besser zu machen. Atmen Sie ein, und nehmen Sie in sich auf, was im Himmel und auf der Erde existiert. Atmen Sie aus, und bringen Sie dabei Schönheit und Fruchtbarkeit in die Welt. Glauben Sie mir, es wird funktionieren.«
    »Ich bin nicht hergekommen, um eine Übung zu lernen, die ich in jedem Yogahandbuch finden kann«, sagt Hilal ärgerlich.
    Draußen zieht Moskau an uns vorbei. Ich würde gern durch diese Straßen gehen, einen Kaffee trinken, aber der Tag war lang, und ich muss am nächsten Tag früh aufstehen, um eine Reihe von Terminen wahrzunehmen.
    »Dann darf ich also mitkommen?«
    Hat diese Frau kein anderes Thema? Ich habe sie vor weniger als vierundzwanzig Stunden

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