Aleph
ich.
»Ich habe Ihnen ein Stück meiner Seele geöffnet, aber bis ich meine Mission erfüllt habe, fehlt noch viel. Dar! ich mit Ihnen kommen?«
Im Allgemeinen provozieren aufdringliche Menschen bei mir nur zwei Reaktionen: Entweder lasse ich sie stehen oder ich lasse mich einwickeln. Ich bringe es nicht fertig, jemandem zu sagen, dass seine Träume unerfüllbar sind. Nicht alle sind so stark wie Monica damals in jener Bar in Katalonien, und wenn ich auch nur einen Menschen davon abbringen könnte, für seinen Traum zu kämpfen, würde ich letztlich selbst nicht mehr daran glauben, und mein Leben wäre um einiges ärmer.
Der Tag ist bisher gut gelaufen. Ich rufe den brasilianischen Botschafter an und erkundige mich, ob ich noch jemanden zum Abendessen mitbringen dürfe. Selbstverständlich, lautet die Antwort, meine Leser seien schließlich meine Botschafter.
***
Trotz des förmlichen Anlasses gelingt es dem brasilianischen Botschafter, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Hilal ist in einem hochgradig geschmacklosen grellbunten Kleid erschienen, das sich von der schlichten Kleidung der anderen Gäste unangenehm abhebt. Aus Verlegenheit über den unverhofften Gast weist man Hilal schließlich den Ehrenplatz an der Seite des Hausherrn zu.
Bevor wir zu Tisch gehen, informiert mich mein bester Freund in Russland, ein Industrieller, es gebe Probleme mit einer meiner Agentinnen. Sie habe sich während des ganzen Empfangs, der dem Abendessen voranging, mit ihrem Ehemann am Telefon gestritten.
»Worüber denn?«
»Angeblich hattest du versprochen, in den Club zu kommen, wo ihr Mann Geschäftsführer ist, dann aber abgesagt.«
Tatsächlich stand in meinem Terminkalender so etwas wie »Menü für Reise durch Sibirien durchsprechen«, was so ungefähr das Letzte war, was mich an einem solchen Nachmittag interessierte. Ich hatte den Termin abgesagt, weil es mir völlig absurd erschien: Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie eine Menüfolge diskutiert. Stattdessen hatte ich es vorgezogen, ins Hotel zu gehen, zu duschen und mich vom Rauschen des Wassers an mir völlig unbekannte Orte entführen zu lassen.
Das Abendessen wird serviert, man unterhält sich quer über den Tisch, und irgendwann fragt die Frau des Botschafters Hilal freundlich, woher sie stamme.
»Ich bin in der Türkei geboren und bin mit zwölf Jahren nach Jekaterinburg gekommen, um Geige zu studieren. Sie wissen bestimmt, wie so ein Auswahlverfahren für angehende Musiker läuft, oder?«
Die Botschaftergattin verneint. Wie auf ein Stichwort verebben die anderen Tischgespräche. Plötzlich scheinen sich alle für die so unpassende junge Frau mit dem geschmacklosen Kleid zu interessieren.
»Jedes Kind, das anfängt, ein Instrument zu spielen, muss eine festgelegte Anzahl von Stunden pro Woche üben. In diesem Stadium gehen alle noch davon aus, dass sie dereinst imstande sind, in einem Orchester zu spielen. Wenn sie älter werden, fangen einige an, mehr zu üben als die anderen. Zum Schluss bleibt eine kleine Gruppe besonders talentierter Jugendlicher übrig, die wöchentlich vierzig Stunden üben, und wenn die Scouts der großen Orchester auf der Suche nach neuen Talenten in die Musikschule kommen, sind das natürlich die Schüler, die sie sehen wollen. Ich war eine von ihnen.«
»Sie haben offensichtlich Ihre Berufung gefunden«, sagt die Frau des Botschafters, »so viel Glück hat nicht jeder.«
»Ich würde es nicht gerade meine Berufung nennen. Ich habe bloß deshalb so viele Stunden in der Woche geübt, weil ich mit zehn Jahren missbraucht wurde.«
Spätestens jetzt verstummt jede andere Konversation am Tisch. Der Botschafter versucht, das Thema zu wechseln, indem er einwirft, dass Brasilien neuerdings mit Russland über den Ex- und Import von Schwerindustrie verhandelt. Aber keiner am Tisch, nicht einer, ist jetzt an Handelsbilanzen interessiert. Es liegt an mir, den Faden der Geschichte wiederaufzunehmen.
»Hilal, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, ich denke, jeder hier am Tisch würde gerne wissen, welcher Zusammenhang zwischen einer Vergewaltigung und einer Karriere als Geigenvirtuosin besteht.«
»Was bedeutet Ihr Name?«, fragt die Frau des Botschafters in einem letzten verzweifelten Versuch, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Auf Türkisch bedeutet Hilal Neumond, wie das Emblem auf unserer Landesfahne. Mein Vater war ein radikaler Nationalist. Eigentlich ist Hilal eher ein Männer- und weniger ein Frauenname. Im
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