Aleph
erschöpft und alt fühlen.«
Die Eiche scheint mich jetzt anzusehen. Sie steht bestimmt seit mehr als vierhundert Jahren dort, und das Einzige, was sie in dieser Zeit gelernt hat, ist, an einem Ort zu verharren.
»Warum haben wir an der Eiche ein Ritual abgehalten? Wie soll uns das helfen, zu besseren Menschen zu werden?«
»Ebendeshalb, weil die Menschen heute keine Rituale mehr an Eichen durchführen. Und weil durch scheinbar absurde Rituale etwas tief in der eigenen Seele berührt wird, im ältesten Teil deines Selbst, der dem Ursprung von allem am nächsten ist.«
Ich muss ihm recht geben. Ich habe eine Frage gestellt, auf die ich die Antwort bereits kenne. Ich sollte sinnvoller von J.s Gesellschaft Gebrauch machen.
»Zeit, von hier aufzubrechen«, sagt J. unvermittelt.
Ich schaue auf die Uhr und antworte ihm, dass der Flughafen ganz in der Nähe liegt und wir uns ruhig noch weiter unterhalten könnten.
»Das meine ich nicht. Als ich damals in deiner Situation war, habe ich die Lösung in etwas gefunden, das vor meiner Geburt geschehen war. Ich schlage vor, du versuchst das auch.«
Reinkarnation? Er hatte mir immer von Besuchen in meinen vergangenen Leben abgeraten.
»Ich war bereits in der Vergangenheit. Noch bevor ich dich getroffen habe, habe ich gelernt, wie das geht. Ich habe dir von den zwei Inkarnationen erzählt: einer als französischer Schriftsteller im 19. Jahrhundert und einer -«
»Ja, ich weiß.«
»Ich habe Fehler gemacht, die ich jetzt nicht wiedergutmachen kann. Und du hast mir gesagt, dass ich von weiteren Reisen in die Vergangenheit absehen solle, weil ich mich nur noch schuldiger fühlen würde. In vergangene Leben zu reisen sei, wie ein Loch in den Fußboden zu machen und zuzulassen, dass das Feuer im darunterliegenden Stockwerk auf das darüberliegende übergreift, die Vergangenheit auf die Gegenwart.«
J. überlässt die Überreste der Birne den Vögeln im Garten und sieht mich irritiert an.
»Wenn du nicht aufhörst, solchen Unsinn zu reden, glaube ich noch, dass du recht hast und in den vierundzwanzig Jahren, die wir uns kennen, nichts gelernt hast.«
Ich weiß, worauf er hinauswill. In der Magie - und im Leben - gibt es nur den Augenblick, das jetzt. Die Zeit lässt sich nicht wie die Entfernung zwischen zwei Punkten messen. »Zeit« vergeht nicht. Wir Menschen haben Mühe, uns auf die Gegenwart zu konzentrieren; wir denken ständig an das, was wir getan haben, daran, was wir hätten besser machen können, an die Folgen unseres Handelns. Oder aber wir beschäftigen uns mit der Zukunft, mit dem, was wir morgen tun werden, wie wir uns gegen die Gefahren wappnen können, die uns hinter der nächsten Ecke erwarten, wie wir verhindern, was wir nicht wollen, und das erreichen, wovon wir immer geträumt haben.
J. fährt fort:
»Hier und jetzt beginnst du dich zu fragen: Läuft da wirklich etwas verkehrt? Doch wenn du an diesem Punkt angelangt bist, begreifst du auch, dass du deine Zukunft ändern kannst, indem du die Vergangenheit in die Gegenwart bringst. Vergangenheit und Zukunft existieren nur in unserem Kopf.
Der Augenblick jedoch steht außerhalb der Zeit: Er ist die Ewigkeit. Die Inder benutzen dafür in Ermangelung eines besseren Begriffs das Wort >Karma<. Doch was Zeit wirklich bedeutet, kann kaum jemand erklären: Nicht, was du in der Vergangenheit getan hast, wird die Gegenwart beeinflussen. Was du in der Gegenwart tust, wird deine Handlungen in der Vergangenheit aufwiegen und im Gegenzug auch die Zukunft verändern.«
»Und das heißt…?«
J. hält inne. Der Ärger darüber, dass ich einfach nicht begreife, was er mir erklärt, ist ihm immer deutlicher anzusehen.
»Es bringt nichts, einfach nur hier zu sitzen und zu reden. Tu etwas. Probier dich aus. Es ist Zeit, dass du von hier aufbrichst. Du musst dein Reich, in dem jetzt Routine herrscht, zurückerobern. Hör auf damit, ständig dieselbe Lektion zu wiederholen, dabei wirst du ohnehin nichts Neues lernen.«
»Routine ist nicht das Problem. Ich bin unglücklich.«
»Genau das meine ich mit Routine. Du spürst dich nur noch, wenn du unglücklich bist. Andere Menschen scheinen geradezu für ihre Probleme zu leben und reden von nichts anderem: Probleme mit den Kindern, dem Ehepartner, mit der Schule, mit der Arbeit, mit Freunden. Sie halten nie inne, um sich klarzumachen: Ich lebe hier und jetzt. Ich bin das Ergebnis von allem, was geschehen ist oder geschehen wird, aber ich lebe hier und jetzt. Wenn ich etwas
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