Aleph
von einem Blitz erleuchtet.
Wieder Furcht und Zittern. Ein Zeichen. Da versuche ich, mir einzureden, dass ich immer mein Bestes gebe, doch die Natur belehrt mich des Gegenteils: Wer wirklich lebt, bleibt niemals stehen. Himmel und Erde treffen in diesem Augenblick in einem Gewittersturm aufeinander. Ist er erst einmal vorbei, wird die Luft reiner sein und die Felder fruchtbarer. Aber bis dahin wird der Sturm Häuser zerstören, jahrhundertealte Bäume entwurzeln, paradiesische Flecken überschwemmen.
Eine gelbe Gestalt nähert sich.
Ich überlasse mich dem Regen. Weitere Blitze gehen nieder, aber das Gefühl der Hilflosigkeit wandelt sich allmählich in etwas Positives - als würde das Regenwasser meine Seele rein waschen.
>Segne, und du wirst gesegnet werden.<
Die Worte kommen mir ganz selbstverständlich in den Sinn, eine Weisheit, die nicht meine ist, aber hin und wieder auftaucht. In diesen Momenten kann ich aufhören, alles in Frage zu stellen, was ich über die Jahre gelernt habe.
Das Problem ist nur: Sobald diese Momente vorbei sind, beginne ich wieder zu zweifeln.
Die gelbe Gestalt steht jetzt direkt vor mir. Es ist meine Frau, die einen dieser grellgelben Umhänge anhat, die wir auf unseren Gebirgswanderungen tragen. Wenn wir uns verlaufen würden, wären wir leicht zu finden.
»Hast du vergessen, dass wir heute Abend zum Essen eingeladen sind?«
Nein, ich habe es nicht vergessen. Ich verlasse die Welt der Metaphysik, in der Donner die Stimme der Götter ist, und kehre in die Realität einer kleinen französischen Provinzstadt zurück, zu gutem Wein, Lammbraten und angeregter Unterhaltung mit guten Freunden, die uns von ihrer abenteuerlichen Harley-Davidson-Reise erzählen wollen. Zurück im Haus, wo ich mich umziehe, fasse ich das Gespräch mit J. in ein paar Sätzen zusammen.
»Hat er gesagt, wohin du gehen sollst?«, fragt meine Frau.
»Er hat gesagt, ich muss mich einlassen.«
»Und ist das so schwer? Sei doch nicht so störrisch. Du benimmst dich wie ein alter Mann.«
Herve und Veronique haben noch ein französisches Ehepaar mittleren Alters dazu geladen. Der Mann wird mir als »Seher« vorgestellt, den sie in Marokko kennengelernt haben.
Er wirkt weder besonders sympathisch noch unsympathisch, sondern einfach nur abwesend. Doch plötzlich, während des Abendessens, wendet er sich wie in Trance an Veronique:
»Seien Sie vorsichtig beim Autofahren. Sie werden einen Unfall haben.«
Ich finde die Bemerkung mehr als unangebracht. Falls Veronique die Prophezeiung ernst nimmt, wird ihre Angst negative Energie erzeugen, und es könnte ihr tatsächlich etwas zustoßen.
»Sehr interessant!«, sage ich, bevor jemand anders reagieren kann. »Dann haben Sie also die Fähigkeit, sich in der Zeit zu bewegen, zurück in die Vergangenheit oder vorwärts in die Zukunft. Ich habe gerade erst heute Nachmittag mit einem Freund darüber gesprochen.«
»Wenn Gott es erlaubt, habe ich seherische Fähigkeiten. Ich weiß, wer jeder, der hier am Tisch sitzt, war, ist und sein wird. Ich weiß nicht, wie es kommt, dass ich diese Gabe habe, aber ich habe vor langer Zeit gelernt, sie zu akzeptieren.«
Eigentlich hatten die Gastgeber ja von ihrer Sizilienreise erzählen wollen, auf der sie mit Freunden ihre Leidenschaft für klassische Harley-Davidsons ausgelebt haben, aber auf einmal nimmt das Gespräch eine Wendung, die mir unangenehm ist. Wie sich die Dinge halt manchmal fügen.
Alle sind gespannt, was ich darauf antworten werde.
»Dann wissen Sie auch, dass Gott uns solche Dinge nur dann sehen lässt, wenn er eine Veränderung wünscht.«
Und zu Veronique gewandt, füge ich hinzu:
»Sei einfach vorsichtig. Wenn etwas aus der astralen Ebene auf diese Ebene verschoben wird, verliert es einen großen Teil seiner Kraft. Was ich sagen will: Ich bin mir fast sicher, dass es keinen Unfall geben wird.«
Veronique schenkt Wein nach. Sie glaubt, der Seher aus Marokko und ich würden auf einen Streit zusteuern. Doch das stimmt nicht. Er erschreckt mich nur, weil er tatsächlich »sehen« kann. Ich nehme mir vor, später Herve darauf anzusprechen.
Der Mann schaut mich kaum an - er wirkt immer noch abwesend, wie jemand, der unwillentlich in eine andere Dimension eingetreten ist, und sich nun verpflichtet fühlt, seine Erfahrungen zu teilen. Er will mir etwas sagen, zieht es aber vor, sich an meine Frau zu wenden:
»Die Seele der Türkei wird Ihrem Mann all ihre Liebe schenken. Aber sie wird sein Blut vergießen,
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