Aleph
Falsches getan habe, kann ich es wiedergutmachen oder wenigstens um Vergebung bitten. Wenn es das Richtige war, werde ich dadurch glücklicher und bin fester mit dem Jetzt verbunden.« J. atmet tief durch, bevor er weiterspricht: »Du lebst schon lange nicht mehr im Hier und Jetzt. Es ist Zeit, aufzubrechen und wieder in die Gegenwart zurückzukommen.«
***
Genau das hatte ich befürchtet. Schon seit einer Weile hatte J. mir zu verstehen gegeben, dass es Zeit sei, mich auf den dritten heiligen Weg zu machen. Aber mein Leben hatte sich seit dem fernen Jahr 1986 verändert. Damals hatte die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela mich dazu gebracht, mich meinem Schicksal und dem, was Gott mit mir vorhatte, zu stellen.
Drei Jahre danach war ich in der Region, in der wir uns im Augenblick befanden, den sogenannten »Römischen Weg« gegangen: siebzig schmerzvolle, ermüdende Tage, während denen ich all die absurden Dinge in die Tat umsetzen musste, die ich in der vorangegangenen Nacht geträumt hatte. (Dazu gehörte auch, vier Stunden an einer Bushaltestellte zu warten, ohne dass irgendetwas Nennenswertes geschah.)
Seither hatte ich mich ganz meiner Arbeit gewidmet. Es war das, was ich wollte, und es war gut so. Außerdem fing ich an, wie ein Wahnsinniger zu reisen. Und lernte dabei die wichtigsten Lektionen meines Lebens.
Im Grunde genommen bin ich schon immer wie ein Wahnsinniger gereist, seit meiner Jugend. Aber in letzter Zeit scheine ich nur noch auf Flughäfen und in Hotels zu leben - und das Gefühl, Abenteuer zu erleben, ist schnell einem gewissen Überdruss gewichen. Wenn ich mich darüber beschwere, dass ich nie länger an einem Ort bleiben kann, wundern sich die Leute: >Aber reisen ist doch so schön! Schade, dass ich nicht das Geld dafür habe!<
Doch Reisen ist niemals eine Frage des Geldes, sondern des Mutes. Wie viel Geld hatte ich schon als junger Hippie? Gerade genug, um das Ticket zu bezahlen, dennoch waren es die besten Jahre meiner Jugend - ich aß schlecht, übernachtete auf Bahnhöfen, konnte mich oft nicht einmal verständigen, weil ich der Sprache nicht mächtig war. Allein um eine Unterkunft für die Nacht zu finden, musste ich mich von anderen abhängig machen.
Wenn man lange unterwegs ist, eine Sprache im Ohr hat, die man nicht versteht, Geld in den Händen, dessen Wert man nicht kennt, unterwegs auf unbekannten Straßen, durch die man noch nie gekommen ist, dann entdeckt man, dass das alte Ich mit all seinen Erfahrungen angesichts dieser neuen Herausforderungen vollkommen nutzlos ist. Man erkennt, dass es tief in uns jemanden sehr viel Interessanteren, Abenteuerlustigeren gibt, der offen für die Welt und neue Erfahrungen ist.
Irgendwann aber kommt der Tag, an dem man genug vom Reisen hat, an dem auch das Reisen zur langweiligen Routine geworden ist.
»Nein, es ist niemals genug. Es wird niemals genug sein«, widerspricht mir J. »Unser Leben ist eine einzige Reise, von der Geburt bis zum Tod. Die Landschaft verändert sich, die Menschen verändern sich, unsere Bedürfnisse wandeln sich, aber der Zug fährt immer weiter. Das Leben ist dieser Zug, nicht der Bahnhof. Und was du im Moment tust, hat nichts mit Reisen zu tun. Du wechselst lediglich die Landschaft, und das ist etwas vollkommen anderes.«
Ich schüttele den Kopf.
»Nein, das hilft mir nicht weiter. Wenn ich einen Fehler aus einem früheren Leben wiedergutmachen will, und ich weiß genau, um welchen Fehler es geht, kann ich das genauso gut hier tun. Ich fühle mich wie in einem Gefängnis, in dem ich jemandes Anordnungen gehorche, der Gottes Willen kennt: dir. Außerdem habe ich inzwischen mindestens vier Menschen um Vergebung gebeten.«
»Aber du hast nicht herausgefunden, mit welchem Fluch du belegt worden bist.«
»Du wurdest doch auch verflucht. Und hast du denn etwas herausgefunden?«
»Ja, das habe ich. Und ich kann dir versichern, der Fluch war schlimmer als deiner. Du warst einmal feige, während ich viele Male ungerecht war. Doch als ich das erkannt hatte, war ich frei.«
»Wenn ich eine Zeitreise machen soll, warum muss ich dann von hier weggehen?« J. lacht.
»Weil es für uns alle eine Möglichkeit der Erlösung gibt, aber dafür müssen wir die Menschen finden, denen wir weh getan haben, und sie um Vergebung bitten.«
»Und wohin soll ich gehen? Nach Jerusalem?«
»Ich weiß es nicht. Wohin auch immer du musst. Finde heraus, was du unvollendet gelassen hast, und beende es. Gott wird dich führen,
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